ESM-Urteil Die Ja-aber-Richter aus Karlsruhe

Einwände haben die Verfassungsrichter mehrfach erhoben, doch aufgehalten haben sie bisher keinen Schritt der europäischen Einigung. Auch bei ihrer Entscheidung zum Euro-Krisenmechanismus ist mit einem Kompromiss zu rechnen: strenge Vorgaben - ohne das ganze Vertragswerk zu kippen.
Karlsruher Verfassungsrichter: Spannung vor dem ESM-Urteil

Karlsruher Verfassungsrichter: Spannung vor dem ESM-Urteil

Foto: Uli Deck/ picture alliance / dpa

Nicht nur in Deutschland und Europa schauen die Menschen am Mittwoch nach Karlsruhe, auch Finanz-Akteure an der New Yorker Wall Street und wohl selbst US-Präsident Barack Obama sind gespannt. Denn der Spruch, den der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, kurz nach 10 Uhr verkünden wird, hält zwei Worst-Case-Szenarien bereit:

  • Stoppen die Richter in ihrer Eilentscheidung bis auf weiteres die deutsche Beteiligung am Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), wäre dies ein heftiger Rückschlag bei der Sicherung der Euro-Zone.
  • Geben sie dem gewaltigen Garantiesystem ihr vorläufiges Plazet, könnte dies den Anfang vom Ende der Eigenstaatlichkeit der Bundesrepublik bedeuten.

Zwar entscheiden die Richter streng genommen nur darüber, ob der ESM sowie der sogenannte Fiskalpakt als völkerrechtliche Verträge bis zu einem endgültigen Urteil von Deutschland ratifiziert werden dürfen oder nicht. Doch der Spruch, egal, wie er ausfällt, dürfte schnell eine unumkehrbare Wirkung entfalten: Nach erfolgter Ratifikation wäre Deutschland an diese Verträge gebunden. Sollten die Eilanträge (unter anderem der Linken, des CSU-Abgeordneten Peter Gauweiler und des Bündnisses "Mehr Demokratie" im Namen von mehr als 37.000 Bürgern) aber Erfolg haben, sei klar, so Voßkuhle in der Verhandlung, dass es "vor allem in der ausländischen Presse erst einmal heißt: 'Euro-Rettung gestoppt'".

Strenge Vorgaben sind wahrscheinlich

Nach Ansicht mancher Ökonomen hat das Karlsruher Urteil durch die jüngste Ankündigung der Europäischen Zentralbank (EZB), im Bedarfsfall unbegrenzt Anleihen von Krisenstaaten aufzukaufen, "spürbar an Dramatik" verloren. Allerdings will die EZB, dass diese Staaten sich den Anpassungsprogrammen etwa des ESM unterwerfen - würde der ESM gekippt, würde dem EZB-Programm zunächst weitgehend die Grundlage entzogen.

Wie die Karlsruher Richter entscheiden, lässt sich vorab nicht hundertprozentig beantworten. Es spricht aber mehr dafür als dagegen, dass sie die Zustimmungsgesetze zwar passieren lassen, dabei aber strenge Vorgaben machen - etwa was die Beteiligung des Bundestags und die Höchstgrenze der Haftung anbelangt.

Solche Ja-aber-Entscheidungen zu Europa sind typisch für das Verfassungsgericht, vor allem seit Voßkuhle im zuständigen Zweiten Senat den Vorsitz hat. Denn trotz aller Machtworte haben die Richter bisher noch keinen einzigen europäischen Vertragsschritt gestoppt. So war es schon bei der ersten, grundlegenden Entscheidung unter Voßkuhle, dem Urteil zum Vertrag von Lissabon, der die europäische Integration auf neue, vertiefte Grundlagen stellte: Die Richter billigten im Sommer 2009 das Vertragswerk unter der Maßgabe, dass der Bundestag bei grundlegenden Entscheidungen in europäischen Fragen besser beteiligt wird, und der Voraussetzung, dass der Bundesrepublik bei der weiteren europäischen Einigung Befugnisse von "substantiellem Gewicht" verbleiben müssen - was aus Sicht der Richter damals noch erfüllt war.

Karlsruhe agierte bislang zurückhaltend und vorsichtig

Auch im Zuge der Euro-Rettung verlangte das Verfassungsgericht immer Feinjustierungen - verhinderte aber nichts: Bei den Urteilen zu den ersten Griechenland-Hilfen und dem sogenannten Neuner-Gremium beim erweiterten Euro-Rettungsschirm EFSF stellten Richter klar, dass alle wesentlichen haushaltsrelevanten Entscheidungen vom Plenum des Bundestags zu treffen sind. Eine Woche vor der Verabschiedung des ESM im Bundestag gaben sie einer Klage der Grünen recht, weil die Bundesregierung den Bundestag bei der Schaffung dieses Vertragswerks unzureichend beteiligt hatte.

Dass die Richter trotz allem so zurückhaltend und vorsichtig sind, hat einen Grund: Das Verfassungsgericht lebt von der Akzeptanz seiner Urteile, darf also die Politik nicht überfordern. Auch bei der anstehenden Entscheidung über den ESM dürften die Richter im Blick haben, dass ihr Gericht "Teil eines großen Verbunds" ist, wie Voßkuhle gerne sagt. Ganz ohne Anmerkungen dürfte es auch jetzt im ESM-Verfahren nicht gehen. Der als Berichterstatter zuständige Verfassungsrichter Peter Huber und seine Kollegen brachten schon in der Verhandlung Anfang Juli vor allem gegen den ESM immer wieder Bedenken vor: Etwa gegen den Umstand, dass Deutschland vorübergehend das Stimmrecht im ESM entzogen werden könne, wenn es Streit über die deutschen Zahlungspflichten gäbe. Dass der Mechanismus ausdrücklich Nacht- und Nebel-Entscheidungen vorsieht, bei denen der Bundestag außen vor bleiben muss. Vor allem aber, dass der ESM einen Automatismus auslösen könnte, bei dem immer mehr Geld nachgeschoben werden muss, um die Kosten bei einem Scheitern zu vermeiden, die aber bei der nächsten Runde dann noch höher sein werden.

Die Möglichkeit eines völkerrechtlichen Vorbehalts

Wie aber könnten die Kompromisslinien bei einer solchen Ja-aber-Entscheidung aussehen? Wie ließen sich solche Bedenken ausräumen, um zu verhindern, dass insbesondere die Ratifikation des ESM-Vertrags schon wegen dieser Punkte insgesamt untersagt werden muss?

  • Nachverhandlungen zu verlangen, dürfte faktisch ausgeschlossen sein, abgesehen vom Zeitverlust dürfte kaum ein anderer Staat dazu bereit sein.
  • Einseitig möglich wäre aber ein sogenannter völkerrechtlicher Vorbehalt: Danach könnten die Verfassungsrichter verlangen, dass die Bundesregierung versucht, sich in solchen Punkten vorab durch sogenannte völkerrechtliche Vorbehalte zu den Verträgen abzusichern. Solche Vorbehalte werden wirksam, wenn die Vertragspartner dem nicht widersprechen - andernfalls hätte Deutschland nicht ratifiziert. Es ist jedoch strittig, inwieweit in EU-Angelegenheiten Vorbehalte möglich und wirksam sind, oder ob sie letztlich nur den Rang einer sogenannten interpretativen Erklärung haben.
  • Eine solche interpretative Erklärung könnte Deutschland auf Verlangen der Verfassungsrichter jederzeit einseitig abgeben, das Inkrafttreten des Vertrags würde davon nicht tangiert. Rechtlich verbindlich ist eine solche Erklärung nicht: Der EuGH könnte sich in Streitfällen darüber hinwegsetzen.
  • Schließlich könnte das Verfassungsgericht die Vertragstexte einfach selbst auslegen. Geschähe dies im sogenannten Tenor des Urteils vom Mittwoch, also in den dem Urteil vorangestellten Kernaussagen, hätte das sogar Gesetzesrang. Daran gebunden sind andere Staaten aber ebenfalls nicht.

Immerhin: Da Deutschland - jedenfalls im Normalfall - in den Gremien des ESM ein Vetorecht hat, wären auch innerstaatliche Bindungen durchaus von Belang. Wenn die Verfassungsrichter etwa sagen, dass Deutschland auf keinen Fall Verpflichtungen eingehen darf, die die jetzige Haftungssumme von 192 Milliarden übersteigen, müssten die deutschen Vertreter in den ESM-Gremien sich eigentlich daran halten.

Allerdings: Wenn sie es nicht tun, müsste die Bundesrepublik trotzdem für entsprechende Beschlüsse einstehen. Wie die Verfassungsrichter mit diesem Risiko umgehen, dürfte eine der spannendsten Fragen sein. Sicher ist: Vor einer Antwort drücken werden sie sich nicht.

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