SPD-Absturz in Rheinland-Pfalz Kurt Beck unter Schock
Es gibt eine Menge selbsternannter Sieger an diesem Abend. Kurt Beck ist es nicht. Erst eine Stunde nach Verkündung der Prognosen tritt er vor die Kamera, er ist blass, er ist leise. Sonst ist er nie um einen Kalauer verlegen, nun lächelt er nicht einmal. Seine Frau Roswitha steht neben ihm, sie schaut angestrengt.
35,7 Prozent der Stimmen sind es für die SPD in der vorläufigen Endabrechnung des Landeswahlleiters schließlich - ein Minus von fast zehn Prozentpunkten. Die absolute Mehrheit ist futsch, der Vorsprung zur CDU, die auf 35,2 Prozent kommt, nur hauchdünn. Und die Grünen fahren einen zweistelligen Rekordzuwachs ein - 15,4 Prozent. 2006 waren sie noch an der Fünfprozenthürde gescheitert - das haut doppelt und dreifach rein.
"Dass wir nicht mehr allein regieren können, damit hatten wir uns schon arrangiert", sagt Becks Fraktionsführer Jochen Hartloff, "aber dass die Grünen so stark werden, habe ich nicht gedacht." Hartloff steht im Hof des Mainzer Abgeordnetenhauses, er wippt auf seinen Sohlen, lächelt demonstrativ locker. "Wir nehmen's leicht", sagt er, und dann gleich zweimal: "Regieren ist immer besser als nicht regieren."
"Für die letzten Jahre egal"
Ein älterer Beck-Anhänger ("SPD-Mitglied seit 1962") sagt, es sei "ungerecht, dass die Stimmen für die SPD zu den Grünen gewandert" seien. Anti-Atom, das wäre "halt das Markenzeichen der Grünen", da hätte sich Beck auf den Kopf stellen können. "Aber wir sind mittlerweile genauso dagegen", sagt der Mann trotzig. Ein anderes SPD-Mitglied, Anfang dreißig, hat ein rotes Shirt an, auf dem die Kult-Comicfigur "Hello Kitty" einen Bürstenhaarschnitt trägt und "Hallo Kurty" heißt. Ob nun mit oder ohne Grüne an der Macht - "für die letzten Jahre ist das scho' egal", sagt er, "da muss man sich nicht drüber aufregen."
Die Grünen, ist schnell klar, sind nicht nur Königsmacher - sie werden in den Verhandlungen auch bedrohlich hoch pokern. "Man ärgert sich natürlich auch", kommentiert der "Kurty"-Shirt-Träger tapfer.
"Das ist Wahnsinn"
Bei den Grünen erinnert die Stimmung eher an ein Popkonzert als an eine Wahlveranstaltung. "Das ist Wahnsinn", ruft die Landesvorsitzende Eveline Lemke in die johlende, jubelnde Menge, als sie die Bühne eines brechend vollen Festsaals in Nähe des Mainzer Landtags betritt. "Das ist ein Riesenergebnis, das ist grandios, es fühlt sich unglaublich an."
Bei der SPD haben sich mehr als ein Dutzend Kamerateams auf der Wahlparty postiert, sie wollen Beck an der Basis sehen - aber er ist nicht da. Etwas später schiebt sich ein Tross Fotografen und Kameramänner zwischen Abgeordnetenhaus und Landtag unter einem Baugerüst entlang - der einzige Weg zum Plenarsaal, wo die zentrale Pressekonferenz stattfinden wird.
Wer versteckt sich in dem Pulk? Etwa Beck?
Es ist Julia Klöckner, Herausforderin des dienstältesten Ministerpräsidenten Deutschlands, sie wird von der Presse umringt, trägt Schwarz und Pink und das Make-up einer Wetterfee. Klöckner scherzt mit ein paar Kindern, die sie für eine Jugendsendung interviewen wollen. Der Tross bleibt stehen, mitten auf dem Bürgersteig, damit der Junge seine Frage stellen kann. Klöckner beugt sich runter und sagt langsam und deutlich: "Die SPD ist ja ganz schön eingebrochen, weißt du. Die werden sich jetzt Gedanken machen müssen!" Spricht's, lächelt und setzt ihren Fußmarsch fort.
Landesvater Beck bietet das Kontrastprogramm dazu, bei der Pressekonferenz scheint er unter Schock zu stehen. Einen Sündenbock für das Wahldesaster hat er - ebenso wie viele an Parteispitze und Basis - schnell ausgemacht. Japan, Fukushima, die Reaktoren. Gebetsmühlenartig wiederholt Beck für die Kameras im Plenarsaal, dass die Atomkatastrophe von Japan die "Furcht vor dieser Technologie" in den Menschen gereizt habe. Viele seiner Wähler hätten sich am Wahltag, Kurt Becks letztem Wahltag, reflexartig für die Grünen entschieden. "Das ist eine bewusste Entscheidung der Menschen", sagt Beck. Die Blässe ist einer Röte gewichen, er sieht unendlich müde aus. "Wir müssen jetzt den Blick nach vorne richten, vor allem im Bereich der regenerativen Energien." Mehr kann er nicht sagen.
Durch die Hintertür
Der seit 16 Jahren in Rheinland-Pfalz regierende Beck verschwindet durch den Hinterausgang. Klöckner und Lemke streifen noch an mehreren Fernsehteams vorbei - Klöckner siegesgewiss ("Die CDU ist wieder da!"), Lemke kämpferisch. Die Grüne bekräftigt, dass ihre Ausgangsposition für die Koalitionsverhandlungen besser kaum sein können, nachdem auch die CDU ihnen Gespräche angeboten hat. "Wir werden natürlich mit beiden Seiten sprechen", sagt sie und schiebt hinterher: "Die Schnittmengen mit der SPD sind aber nach wie vor größer."
Der eigenen Basis dürfte es auch nur schwer vermittelbar sein, gerade nach dem klaren rot-grünen Anti-Atomkraft-Wahlkampf, nun kurzfristig zur CDU umzuschwenken. Für Kurt Beck dürfte der Preis für ein Bündnis mit den Grünen an diesem Abend dennoch immens gestiegen sein.
Zerstörter als die SPD sind nur noch die Liberalen, die mit Karacho aus dem Landtag geflogen sind. 2006 holten sie noch 8,0 Prozent - nun sind es noch 4,2 Prozent. Der rheinland-pfälzische Landesvorsitzende Rainer Brüderle sucht nach Worten und Möglichkeiten, der Debatte um personelle Konsequenzen aus dem Wege zu gehen. Ja, sagte Brüderle, der Wahlkampf sei "völlig überlagert" worden "von Japan und Atom und der Sorge um den Euro". Und nein, für personelle Konsequenzen aus dem Desaster sei es noch zu früh. Erstmal müsse man das Ergebnis "sorgfältig analysieren".
Neben ihm im Sitzungssaal der Landtagsfraktion steht mit versteinerter Miene der bisherige Fraktionschef Herbert Mertin. "Das werden jetzt unangenehme Tage und Wochen", sagte er traurig. Fraktions- und Abgeordnetenmitarbeiter müssen entlassen, Büros ausgeräumt werden. "Zum Glück habe ich einen ordentlichen Beruf", sagte der Jurist zu einem Parteifreund.
Becks Zukunft ist nach eigener Aussage klar. "Ich habe bei den Persönlichkeitswerten beachtliche Werte erzielt", sagt er. "Es wäre falsch, würde ich jetzt persönliche Konsequenzen ziehen. Ich stehe zu meinem Wort."