SPD Die unsichtbare Partei

SPD-Vorsitzender Sigmar Gabriel: Zunehmender "sozialdemokratischer Staatsadel"
Foto: Soeren Stache/ dpaDie Liberalen werden verspottet. Den Christdemokraten sind alle politischen Glaubensbekenntnisse der früheren Jahre verlorengegangen. Die Linke liegt wie eh und je im inneren Clinch. Die Grünen verbürgerlichen im atemberaubenden Tempo. Eigentlich müsste der Raum für eine sozialdemokratische Regeneration riesig sein. Aber die Sozialdemokraten dümpeln nach wie vor kraftlos vor sich hin. Europaweit im Übrigen.
Aber warum? Versuchen wir ein Bestandsaufnahme.
Die Erschlaffung der Sozialdemokratie setzte in den achtziger Jahren, in einigen europäischen Ländern auch schon während der siebziger Jahre ein. Seither laboriert die demokratische Linke an ihrem Zentralproblem: Ihre Parteitanker lecken an mehreren Seiten. Die Entfremdung der Wähler erfolgte aus verschiedenen, zuweilen entgegengesetzten Motiven. Den einen waren sie zu sehr mittig, den anderen zu wenig. Das manövrierte die Sozialdemokratie in eine strategische Zwickmühle. Versuchte sie auf der einen Seite, durch zielgruppenspezifische Angebote ihre Defizite auszugleichen, liefen ihr auf der anderen Seite prompt umso mehr Wähler von der Fahne und umgekehrt. In diesem Dilemma steckt die Sozialdemokratie europaweit bis heute; ein probates Rezept dagegen hat sie bis zur Gegenwart nicht finden können.
Die erste Welle des sozialdemokratischen Schwunds ging von der europäischen Jugend der siebziger Jahre aus. In diesem Jahrzehnt kristallisierten sich neue Themen und soziale Bewegungen heraus, die sich nicht einfach an den früheren Arbeit-Kapital-Gegensätzen ausrichteten. Die ökologisch, feministisch, menschenrechtlich bewegten jungen Wähler suchten nach neuen politischen Repräsentanzen. Das nährte neue grüne Parteien, zum Teil - außerhalb Deutschlands - auch linkssozialistische Formationen. Immerhin: In ihren besseren Zeiten, nach einer Phase von programmatischen Selbstkorrekturen, schaffte es die Sozialdemokratie vor allem in Skandinavien, einen Teil der abtrünnig gewordenen jungen Leute von links wieder heimzuführen.
Mit der zweiten Abflusswelle in der jungen Wählerschaft, bei den Geburtskohorten der Jahrgänge 1965 bis 1980, taten sie sich hingegen sehr viel schwerer. Diese Generation hatte den vielgepriesenen Wohlfahrtsstaat in den Jahren ihrer primären Sozialisation schon als brüchig und reparaturbedürftig erfahren. Das Gros dieser Jahrgänge, vor allem wenn ihre Zugehörigen im global ausgerichteten Privatsektor der Ökonomie beschäftigt war, wandte sich während der achtziger und neunziger Jahre im Wahlvorgang den Mitte-Rechts-Parteien zu. Es blieb dort, wenn es gut lief, oder wandte sich, wenn die Enttäuschungen überwogen, ökologischen oder libertären Parteien als Alternative im Bürgertum zu. Die Sozialdemokraten hingegen kamen für sie mehrheitlich nicht mehr in Frage - und so wurden jene mehr und mehr zu Parteien der "jungen Alten", der neuen Rentner- und Pensionärsgeneration.
Weg von den proletarischen Wurzeln hin zu neuen Mitte-Gruppierungen
Nicht wenige Interpreten haben im letzten Vierteljahrhundert im Zuge dieses Prozesses den Sozialdemokraten zugerufen, sich doch sozial grundlegend zu modernisieren, weg von den proletarischen Wurzeln hin zu den neuen Mitte-Gruppierungen. Und diesem Rat sind die meisten sozialdemokratischen Parteien gefolgt, was angesichts der eindeutigen soziologischen Entwicklungstendenzen in den neokapitalistischen Gesellschaften fraglos nachvollziehbar war. Denn als wachsende Klasse der Zukunft ließ sich die manuell tätige industrielle Arbeiterschaft schwerlich noch definieren. Indes: "Die Bestrebungen der Partei, ihr Image als Arbeiterpartei loszuwerden, waren allzu erfolgreich", kommentierte 2003 ironisch der dänische Professor für politische Soziologie, Jørgen Goul Andersen.
Ein niederländischer Parteiintellektueller fragte sich unlängst, wann mit dem Abgang des letzten Arbeiters aus der einst als Arbeiterpartei begründeten Sozialdemokratie zu rechnen sei. Ihm schwante, dass die neuen mittelschichtigen Kader der Sozialdemokratie für die zurückgelassenen Unterschichten nur noch Verachtung besäßen.
In die gleiche Richtung geht die Argumentation des kritischen norwegischen Publizisten Magnus E. Marsdal, für den sozialdemokratische Parteien mittlerweile die politischen Vertretungen der Ausbildungsmittelklasse sind, welche mit ihrem steten Ruf nach "Wissensgesellschaft", "Investitionen in Forschung", "Förderung des Humankapitals in der Migration" komplett an den Bedürfnissen des unteren Drittels vorbeiagieren.
In der Tat haben einige Studien zu den skandinavischen Gesellschaften gezeigt, dass die Arbeiterschaft sich unverändert am Wohlfahrtsstaat festklammert, dabei aber Interesse insbesondere an guter Gesundheitsversorgung, solider Alltagssicherung und auskömmlicher Pflege geltend macht, von Ausgaben für Kultur oder gar Migration hingegen wenig hält.
Letzteres aber ist oft ein Lieblingsprojekt der linksliberalen Parteieliten in der Sozialdemokratie, die - auch in ihrer Passion für Europa - alle Verbindungen zu den "couches populaires" gekappt haben. In der englischen Middle Class, die 1997 noch erwartungsvoll New Labour favorisiert hatte, kommt hinzu, dass dort die Neigung, höhere Steuern für Sozialabgaben zugunsten der marginalisierten Schichten zu bezahlen, in den letzten zehn Jahren vernehmlich zurückgegangen ist.
Kaum noch Parteieliten unmittelbar aus der Arbeiterschaft
Die europäischen Sozialdemokratien sind Parteien des öffentlichen Dienstes geworden. Kaum noch jemand aus den Parteieliten entstammt unmittelbar der Arbeiterschaft. Der oben erwähnte norwegische Publizist sprach in Bezug auf die führenden Sozialdemokraten seines Landes gar von einem "sozialdemokratischen Staatsadel", der sich durch Netzwerke und Patronage gezielt von oben die Karrierewege sichert und politisch zunehmend seine eigenen, elitären Interessen vertritt. Dieses Urteil mag überzogen sein. Insgesamt aber ist die Tendenz zur zunehmenden Akademisierung und öffentlichen Bedienstung gerade des Mittelbaus und der Führungspersonen innerhalb der sozialdemokratischen Parteien seit den siebziger Jahren schwer zu leugnen.
Vor allem hatte die progressive Sozialtechnokratie den Sozialdemokraten die originäre Sprache genommen, was zu einer begrifflichen Enteignung ihrer Repräsentanten und Anhänger geführt habe. Die früheren Kategorien zur Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse - der Begriff der Klasse, des Kapitals, des Konflikts, des sozialen Interesses, der Machtverhältnisse - werden kaum noch benutzt, wenngleich sie gewiss mehr Erklärungs- und Deutungskraft besitzen als der stattdessen bevorzugte Marketing-Speech, die Papageiensprache der etablierten Schichten schlechthin.
Mehr und mehr Getriebene als noch treibende Kraft
Aber es ist wohl so: Eine kraftvolle Programmatik und farbig eigenwillige Sprache entstehen wohl nur in Solidargemeinschaften, die von ihrer Zielsetzung und Sozialmoral angetrieben sind, sich dabei in harten Auseinandersetzungen behaupten müssen und ein klares Ziel vor Augen haben. Das traf auf die Sozialdemokratie im letzten Vierteljahrhundert nicht mehr zu. Sie befand sich in vielen Ländern eingezwängt zwischen aggressiven Rechtspopulisten hier, neuliberalen oder postmaterialistischen Trendsettern dort. Die Sozialdemokraten, die sich historisch lange als Avantgarde begriffen hatten, waren dadurch mehr und mehr Getriebene als noch treibende Kraft. Sie sandten Signale nach allen Seiten, um ihre Verluste bei Wahlen zu begrenzen - und wurden dadurch in ihren Aussagen so unscharf, dass die befürchteten Einbrüche erst recht eintrafen.
Natürlich erschallt in einer solchen Situation europaweit der Ruf nach einer "neuen Vision", nach einem "nouveau modèle", nach einer neuen "route map". Alle ahnen, dass die früheren Parolen nicht mehr ausreichen, dass in der Tat etwas Neues kommen muss. Aber niemand weiß so recht: was? Besonders deutlich jedenfalls sind die Umrisse des viel reklamierten Projekts einer demokratischen Linken in Europa nicht. Losungen wie "präventiver Staat", "ökologischer Sozialismus", "vorsorgender Sozialstaat" schwirren durch die Debatten und Beiträge, bleiben aber blass und haben offenkundig bislang weder Mitglieder noch Wähler elektrisiert.
Die deutschen Sozialdemokraten setzen seit Beginn des Jahres wieder auf den "Fortschritt". Interessant ist, dass ihre englischen Genossen seit kurzem auf "Blue Labour", auf die Wiederentdeckung des "Konservatismus" ihre Hoffnungen setzen. In England fällt die innerparteiliche Kritik am "Blairismus" auch heftiger aus als in Deutschland die innersozialdemokratische Auseinandersetzung mit der "Schröderianismus". "Blue Labour" macht die "beinahe maoistischen Reformen" des öffentlichen Sektors der Blair-Regierung verantwortlich für den Niedergang kommunitärer Einstellungen im Zwischenbereich von Staat und Ökonomie.
Identität, Zugehörigkeit und die Wertschätzung des ländlichen Raums
Die neuen Konservativen in der Labour-Party, durchaus in großen Teilen auf dem linken Flügel zu finden, orientieren sich an diejenigen Menschen, die Angst um ihre "Jobs, um ihre Familie und ihre Gemeinden" haben. Denn diese Menschen durchlebten derzeit die destruktivste Phase des Kapitalismus seit den dreißiger Jahren. Es gehe daher um Identität und Zugehörigkeit, um die Wertschätzung auch des ländlichen Raums, des elementare Familienleben, des ursprünglich kommunalen Orts. Die "Redemokratisierung" der lokalen Ebene steht im programmatischen Mittelpunkt von "Blue Labour", auch die betriebliche Mitbestimmung, was einst in der Sozialdemokratie als "Wirtschaftsdemokratie" firmierte, seit den siebziger Jahren aber zunehmend in Vergessenheit geraten ist.
In der französischen Sozialistischen Partei hieß die Zauberformel der letzten Monate, zumindest im Umfeld der Parteichefin: "Société du bien-être et du respect". Man strebt dort also eine "Gesellschaft des Wohls und des Respekts" an. Man will eine Linke, "die schützt", eine Nation der "gegenseitigen Sorge", was heißen soll: Die Gesellschaft kümmert sich um den einzelnen Bürger, aber der Bürger muss sich auch um andere und die Gesellschaft insgesamt kümmern.
Man sieht: Die Sozialdemokraten suchen noch nach einem neuen Erzählstrang für das 21. Jahrhundert. Bei der Reform ihrer Organisation haben sie zuletzt einige Emsigkeit an den Tag gelegt, ob in Deutschland, in England, in Frankreich, in Schweden. Aber ohne überzeugendes Narrativ wird auch eine geöffnete und modern quotierte Organisation nicht die Revitalisierung der reformistischen Linken bringen, die sich Sigmar Gabriel, Ed Miliband, Martine Aubry, Håkan Juholt in diesen Monaten erhoffen.