

Verkürzte Debatte Identitätspolitik ist überall


Fertighäuser: Nicht nur Wohnform, sondern Symbol
Foto: Jan Woitas / picture alliance/dpaIdentitätspolitik – woran denken Sie beim Wort Identitätspolitik? An Frauen, Schwarze Menschen, sexuelle Minderheiten? Vielleicht aktuell an Wolfgang Thierse und Gesine Schwan, die gerade wieder eine Auseinandersetzung in der SPD ausgelöst haben?
Wahrscheinlich nicht ans Einfamilienhaus.
Warum eigentlich nicht ans Einfamilienhaus?
Denn die sogenannte Debatte über ein angebliches Einfamilienhausverbot, wie es den Grünen unterstellt wird, ist ein anschauliches Beispiel für eine Form der Identitätspolitik, die üblicherweise nicht als solche erkannt wird, obwohl sie extrem verbreitet und mächtig ist: die Identitätspolitik der Normalität.
Üblicherweise wird eine Politik als Identitätspolitik bezeichnet, die auf die Identität von Menschen als Angehörige bestimmter Gruppen aufbaut und diese Identität zum Gegenstand macht und positiv betont.
Gemeint sind meist bestimmte Identitäten: als Schwarze, queere, transsexuelle, nichtbinäre Menschen, die sich weder als Mann noch als Frau einordnen, als Frauen oder auch beispielsweise als queere Schwarze Frauen.
Es gibt keinen Grund für diese Beschränkung
Aus diesem Kontext, der Auseinandersetzung mit neuen sozialen Bewegungen, kommt der Begriff wohl ursprünglich. Aber es gibt von dieser Geschichte abgesehen keinen Grund für diese Beschränkung auf diese Gruppen.
Wenn Identitätspolitik Politik ist, die auf bestimmten Gruppenzugehörigkeiten aufbaut, diese bejaht und zum Gegenstand macht, dann gibt es sehr, sehr viel mehr davon. Dann ist eben die Einfamilienhausdebatte ein perfektes Beispiel.
Die Kritik der Grünen (die, es muss wiederholt werden, kein Verbot von Einfamilienhäusern fordern) ist eine nüchtern-materielle: Einfamilienhäuser verbrauchen Fläche, Baustoffe, haben eine schlechte Energiebilanz und sorgen für Zersiedelung, und sie nehmen in Städten knappen Wohnraum weg. Wenn Deutschland zu viele Einfamilienhäuser baut, wird es schwer mit dem Klima- und Artenschutz. Da geht es um Ökologie, um Soziales, um Verteilung.
Die Kritik an den Grünen dagegen war überhaupt nicht materiell und schon gar nicht nüchtern, sondern ging auf eine immaterielle, kulturelle, emotionale Ebene.
Das Einfamilienhaus als Chiffre
Der Linkenpolitiker Jan Korte etwa schrieb im »Neuen Deutschland« von »den kleinen Träumen vieler Menschen, die man zur unteren oder mittleren Mittelschicht zählen könnte«, vom Einfamilienhaus als »Chiffre für das kleine Glück«, das »Sicherheit, Geborgenheit und das alte Sozialstaatsversprechen« »symbolisiert«, es gehe um Wertschätzung und darum, ob man emotional anknüpfen könne.
Er schrieb nicht von Alterssicherung, einem Garten mit Schaukel und eigenen Zimmern für die Kinder, Wohnkomfort, Stauraum oder Gästezimmern, sondern von Symbolik. Die heftige Abwehr schon der Zustandsbeschreibung, dass Einfamilienhäuser ökologische Probleme bringen, ist eine Form der Identitätspolitik der Normalität.
Sie verteidigt einen Lebensentwurf, eine bestimmte Vorstellung von Familie, Sicherheit, Geborgenheit, Verwurzelung, eine bundesdeutsche Normalität, die schon deshalb als unantastbar gilt, weil sie so verbreitet ist. Im gleichen Spannungsfeld zwischen Ökologie und Identität gibt es spiegelbildliche Auseinandersetzungen: die Verknüpfung des Verbrennungsmotors, der tempolimitfreien Autobahn und der Wurst oder des Nackensteaks mit Freiheit, einem Lebensgefühl, einer Identität eben.
Von dieser Form der Identitätspolitik gibt es unzählige Beispiele, die Politik ist durchzogen von ihr, immer schon.
Jeder Verweis auf Tradition, Brauchtum, Kultur, Religion, jeder Hinweis auf das »Abendland« geht von der Identität einer Gruppe aus und macht sie zum Zentrum von Politik. Ein Kreuz in Amtsstuben aufzuhängen, wie es Markus Söder in Bayern getan hat, ist in diesem Sinne Identitätspolitik. »Mia san mia«, der bayerische Leitspruch, ist Identitätspolitik in diesem Sinne, »sturmfest und erdverwachsen«, das niedersächsische Pendant, ebenso.
Die »Leitkultur«-Debatte ist nichts anderes als Politik, die versucht, eine einheitliche Identität der deutschen Gesellschaft zu beschreiben und zu kodifizieren, also: Identitätspolitik.
Die Beschwörung der europäischen Gemeinschaft und der EU als Werteunion, der Verweis auf die Arbeiter oder die Arbeiterklasse oder auch auf spezifische ostdeutsche Erfahrungen und Erwartungen an Politik, ist Identitätspolitik.
Eine typische Reaktion auf Kritik an der Polizei oder auch nur der Verweis auf manifeste Probleme ist: die Betonung der Wertschätzung der Polizei. Einen Generalverdacht dürfe es nicht geben, heißt es dann zum Beispiel. Ein Innenminister muss sich hinter die Polizei stellen. Kritik wird als Kollektivangriff verstanden. Auf Kritik an der Praxis wird mit emotionaler Bestätigung der Gruppenidentität reagiert. Das ist: Identitätspolitik.
Es ließe sich der Einwand formulieren: Bei der üblicherweise so genannten Identitätspolitik gehe es um Eigenschaften, die stabiler sind, Geschlecht ist etwas anderes als die Wohnform. Aber andererseits lautet ein häufiger Vorwurf an die Identitätspolitik, sie richte sich gegen den Universalismus der Gleichheit aller Menschen, sie zementiere Unterschiede, wo keine sein müssten. Beide Argumente zugleich kann man nicht machen. Gerade, wenn man sich gegen Essenzialisierung von Eigenschaften wendet, muss man Identitätspolitik breiter verstehen.
Identitätspolitik so verstanden, ist kein neues Phänomen und auch keines, das von bestimmten Gruppen betrieben wird. Sie ist fast überall.
Es war nur so, dass Identitätspolitik von der Mehrheit nicht als Identitätspolitik erkannt wurde, solange es sich um Identitätspolitik der Normalität handelte. Denn das Normale steht nicht unter Rechtfertigungsdruck, das Normale steht nie unter Ideologieverdacht, das Normale zu vertreten, ist kein Problem.
Dass Identitätspolitik erst seit einer Weile breit als Problem diskutiert wird, liegt daran, dass sie von vielen überhaupt erst als Identitätspolitik erkannt wurde, als sie das Hergebrachte, Unhinterfragte, Normale infrage stellte.
Die Kategorie ließe sich nützlich machen
So gewendet, ließe sich Identitätspolitik als Kategorie vielleicht retten, ließe sich mit ihr eventuell sogar etwas anfangen, wenn man sie nicht gleich verabschieden möchte. Sie würde eine Verfremdung bewirken, es erlauben, das zu sehen, was sich dem Auge bisher durch schiere Alltäglichkeit verborgen hat. Wo es überall über die Stärkung oder Infragestellung von Identität geht, wo um Wertschätzung und Anerkennung.
Man könnte dann vielleicht sogar die Unterscheidung aufrechterhalten, die gern und selten gut belegt als Vorwurf formuliert ist. Identitätspolitik beschäftige sich mit Nebenwidersprüchen und vergesse die materiellen Fragen, den Klassenkampf, die Umverteilung (und deshalb schade er der Linken so – ein Argument, das verdächtig leidenschaftlich von Liberalen, Bürgerlichen und Rechten gemacht wird).
So ließe es sich ja definieren: Identitätspolitik ist, was auf die immaterielle Anerkennung einer Gruppe zielt. Dann wäre die Mütterrente keine reine Identitätspolitik, obwohl sie starke identitätspolitische Züge hat. Dann wäre aber auch die Forderung nach Quotenregelungen keine reine Identitätspolitik, weil sie ebenfalls sehr reale, konkrete, materielle Folgen hat: Uniplätze, Verwaltungsjobs, Vorstandposten.
Dann wäre die Auseinandersetzung endlich symmetrisch, Identitätspolitik nicht mehr nur ein Vorwurf, den die einen gegen die anderen erheben können.
Dann könnte man nicht jede Forderung nach Anerkennung durch eine Gruppe einfach abtun. Dann könnte man sich stattdessen genauer anschauen, welche Gruppen aus welchen Gründen um welche Form der Anerkennung kämpfen – auch auf die Gefahr hin festzustellen, dass manche der bisher abgewehrten Ansprüche ziemlich schlecht zu verwehren sind. Dann könnte man andererseits sogar produktiv fragen, welche Ansprüche überzeugend sind und ob die Art, wie sie geltend gemacht werden, hilfreich ist.
Man könnte, anders gesagt, mit Identitätspolitik in diesem Sinne umgehen wie mit anderen politischen Ansprüchen auch.
Solange die Diskussion aber nur um einen Teil aller Identitätspolitiken kreist und andere konsequent ignoriert, wird sie nur Verletzungen produzieren, keine Erkenntnis.