SPD Münte meets Marx
Trier - Am Ende holte ihn die Geschichte ein: Franz Müntefering hatte gestern Abend gerade das Marx-Haus verlassen, da stellten sich ihm zwei Männer in den Weg: "Guten Tag, ich bin der Präsident der ältesten Trierer Karnevalsgesellschaft", sagte der eine, "wir kommen von der KG Heuschreck", ergänzt der andere. Da lacht auch der Sauerländer: "Ich hab euch doch bekannt gemacht", konterte Müntefering trocken und ließ sich beschenken. Eine Heuschreck-Chronik samt grünem Schal.
Münte meets Marx - unter normalen Umständen hätte der Besuch des SPD-Chefs in der beschaulichen Provinz wenig Aufsehen erregt, doch nach Kapitalismuskritik und Heuschrecken-Rhetorik musste nicht nur Müntefering damit rechnen, dass sein Besuch im Geburtshaus von Karl Marx eine ganz eigene Symbolik entfalten würde. Für einen kurzen Moment habe er denn auch mit dem Gedanken gespielt, die Einladung der SPD-nahen Ebert-Stiftung abzulehnen, räumte Müntefering vor Ort ein. Schließlich wisse man ja nicht, "was dann so für Kommentare kommen".
Doch Müntefering hat nicht gekniffen und so ließ sich - erstmals seit Willy Brandt - wieder ein amtierender SPD-Chef an der Wiege des Manifest-Autors blicken. Bei Marx angekommen, ging der Besucher gleich wieder auf Distanz. "Er war Philosoph, nicht Politiker", sagte der SPD-Chef. Will heißen: Hier der entrückte Theoretiker, da der politische Praktiker. "Zwischen der SPD und Marx liegen Godesberg und 142 Jahre praktischer Politik", erklärte er. Für die Sozialdemokratie seien die Lehren des Bürgersohns aus der katholischen Provinz ohnehin "nicht prägend" gewesen: "Mein Lehrmeister war er nie."
Marx und die Genossen - da gebe es eine "gewisse Fremdheit, vielleicht auch Verklemmtheit" im Verhältnis und davon, dass das Geburtshaus des Philosophen "keine Weihestätte" oder gar "Ruhmeshalle" werden dürfe. Verklemmt wirkte auch Kurt Beck, der sich als Pfälzer Frohnatur versuchte: Er sei nicht gekommen, weil er einen Bart trage, konstruierte der als Müntefering-Nachfolger Gehandelte eine Pointe, sondern weil er rheinland-pfälzischer Ministerpräsident sei.
Unterdessen geriet die Festansprache des SPD-Chefs am Donnerstagabend zur Wahlkampfrede und Müntefering störte es wenig, dass ein Großteil des Publikums andere Parteibücher besitzt. Marx' größter Fehler sei es gewesen, dass er "die soziale Leistungskraft des demokratischen Staats unterschätzt hat", legte der SPD-Chef los um dann wenige Augenblicke später bei Praxisgebühr und Saatkartoffeln zu landen; letztere dürfe man nicht verfuttern, flüchtete Müntefering sich erneut in seiner bekannt bodenständigen Metaphorik und fordert einmal mehr einen "starken Staat".
Und weil Trier so reich an berühmten Söhnen ist, argumentierte der Gast mit dem einen gegen den anderen: So führte der Sozialdemokrat auch den Begründer der Katholischen Soziallehre, Oswald von Nell-Breuning, ins Feld: "Marx habe zwar die richtigen Fragen gestellt, aber die falschen Antworten gegeben."
Aber: Marx und Engels hätten das Kommunistische Manifest ja schließlich "im Juso-Alter geschrieben", stellte er fest, um dann mit sarkastischen Unterton hinzuzufügen: "Das entschuldigt einiges."
Auf den Juso-Bonus dürfen Michael Müller und Ludwig Stiegler nicht mehr hoffen; mit der altväterlichen Nachsicht des Parteivorsitzenden hatten es sich die beiden SPD-Fraktionsvize spätestens am Vortag verscherzt, als sie den Bundespräsidenten derart scharf attackierten, dass Müntefering ob der Manieren seiner Genossen arg in Bedrängnis geriet: Er stehe "mitten im Getümmel", musste der SPD-Chef daraufhin einräumen und - entwaffnend offen - zweifelte er auch schon an seiner eigenen Autorität.
Keine 24 Stunden später stand Müntefering im Marx-Haus und wurde mit an die Wand gepinselten Zitaten traktiert: "Je großartiger die Sache wird, desto wichtiger, dass Du sie in der Hand behältst", rief ihm Friedrich Engels in Erinnerung. Für einen kurzen Moment gefror das Lächeln auf Münteferings Gesicht. Die Gegenwart hatte ihn wieder.