Stefan Kuzmany

SPD in der Krise Am Abgrund einen Schritt zurück

Der Rücktritt von Andrea Nahles macht nichts besser für die SPD. Solange sich die Partei nicht erinnert, wofür und für wen es sie gibt, wird sie immer tiefer stürzen - egal mit wem an der Spitze.
Das Willy-Brandt-Haus in Berlin, seit 1996 Sitz der Bundeszentrale der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD)

Das Willy-Brandt-Haus in Berlin, seit 1996 Sitz der Bundeszentrale der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD)

Foto: imago/ Hohlfeld

Kein Spott über Andrea Nahles. Sie hat genug gelitten für die eigenen und die noch viel zahlreicheren Fehler ihrer Vorgänger. Schenken wir ihr zum Abschied eine Dartscheibe mit dem Konterfei von Sigmar Gabriel, für den Hobbyraum.

Wer übernimmt jetzt die Parteispitze?

Die gute Nachricht: Olaf Scholz hat keine Zeit. Das muss man verstehen. Noch niemals hat es das in der Geschichte gegeben: Parteivorsitz und Regierungsamt gleichzeitig. Das schafft kein Mensch. Übergangsweise sollen jetzt Thorsten Schäfer-Gümbel, Manuela Schwesig und Malu Dreyer die SPD führen.

Man kennt die Gesichter, aber mal ehrlich: Wer sind diese Leute? Wofür kämpfen sie? Für ein vernünftiges Weiter-so mit Augenmaß. Ist das die SPD?

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Andrea Nahles: Eine Politkarriere in Bildern

Foto: Hermann J. Knippertz/ AP

Geschluckt, gekaut und ausgespuckt

Anders gefragt: Wofür steht die SPD eigentlich? Wozu gibt es sie? Existiert noch eine einzige sozialdemokratische Idee, die nicht von Angela Merkel geschluckt, gekaut und als CDU-Regierungspolitik wieder ausgespuckt wurde?

Stimmt gar nicht, sagt die SPD: Mindestlohn! Kita-Finanzierung! Mietpreisbremse! Alles sozialdemokratische Programmatik, durchgesetzt in der Großen Koalition. Hilft nur nichts, wenn einmal der Markenkern abhandengekommen ist.

Als die SPD im Sommer 2013 ihr 150-jähriges Bestehen mit einem großen "Deutschlandfest" am Brandenburger Tor feierte, gab es zahlreiche Motive für lustige Erinnerungsfotos. Am Rand der Festmeile stand ein kleines Zelt, in dem man sich als sozialdemokratisches Urklientel verkleiden konnte: Helm auf, Arbeitsjacke umgehängt, eine Schaufel in der Hand, etwas Ruß ins Gesicht, so wurde man zum Bergarbeiter. Eine nostalgische Verkleidung, mehr nicht.

Reproduktion eines historischen SPD-Wahlplakats: Was der Partei fehlt, ist die eine einleuchtende Idee, die Botschaft, der Kern

Reproduktion eines historischen SPD-Wahlplakats: Was der Partei fehlt, ist die eine einleuchtende Idee, die Botschaft, der Kern

Foto: sepp spiegl/ imago images

Der SPD fehlt kein Kopf. Das Problem der SPD ist keine Personalfrage. Es fehlt ihr auch nicht an guten Ideen für fortschrittliche Gesetze, die sie dann mehr oder weniger verwässert in der Koalition durchsetzt. Was ihr fehlt, ist die eine einleuchtende Botschaft, der Kern. Der eine Satz, der jedem klarmacht: Dafür steht die SPD.

Jeden Morgen in den Schacht

Als sich 1863 der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein gründete, war sein Ziel offensichtlich einleuchtend: Die Arbeiter verdienten gerade mal so viel, dass es zum Überleben reichte. Ferdinand Lasalle verfolgte die Idee, zur Abwechslung mal nicht die Unternehmer, sondern die Angestellten selbst von ihrer Arbeit profitieren zu lassen. Dafür mussten sie sich zusammenschließen, um später in den Parlamenten ihre Interessen zu vertreten.

Und heute? Es gibt keinen deutschen Steinkohlebergbau mehr, aber Bergleute gibt es immer noch: Jeden Morgen fahren sie ein in den Schacht, nicht mehr vertikal wie damals, sondern horizontal mit der U-Bahn. Sie sitzen in abgedunkelten Räumen, damit die Sonne nicht blendet, und starren auf Bildschirme. Sie fördern Daten zutage, schieben sie hin und her, hacken sie mit bloßen Händen in die Tastaturen.

Es gibt das klassische Proletariat nicht mehr, aber Arbeiter gibt es immer noch: Die unzähligen Servicekräfte, die uns alles bis an die Türe liefern (oder zumindest beim Nachbarn abgeben), die an der Hotline sitzen oder hinter der Theke stehen.

Und die traurigen Gestalten, die nicht einmal ahnen, wie mies sie behandelt werden, weil die Ausbeutung so freundlich und modern daherkommt: Die Jungen, die für billiges Geld bei einem Start-up arbeiten, das leider nicht mehr bezahlen kann, weil es ein Start-up ist und leider kein Geld hat, bis es irgendwann für Millionen verkauft wird. Dann ist Geld da, aber nur beim netten Chef, der es verkauft hat. Ein wahrer Kumpel, hat er doch sogar eine Tischtennisplatte aufgestellt und häufig mitgespielt.

Regieren, Mitregieren, Deregulieren

Für dieses Heer der modernen Bergleute, für die aufstiegsorientierten Fleißigen am unteren Ende der Firmenhierarchie könnte und müsste die SPD da sein: für die Bildschirmsklaven, die Selbstausbeuter und die Bringdienstradler. Für das moderne Proletariat: die Landlosen und abhängig Beschäftigten mit und ohne Abitur. Für die, die nie eine Eigentumswohnung haben und keine Aktien halten werden, weil es dafür niemals reicht.

Es gibt noch Ausbeutung in Deutschland, aber die Ausgebeuteten haben vergessen, dass die SPD gegen Ausbeutung gegründet worden ist. Und bei allem Regieren und Mitregieren und Deregulieren scheint die SPD sich selbst vergessen zu haben.

Nur wenn sie ihren Zweck wiederfindet, erst wenn jede und jeder im Land wieder weiß, wofür es die SPD gibt und geben muss, kann sie sich noch retten. Nur darauf kommt es an. Egal ob in der Regierung oder der Opposition, egal ob mit Kevin Kühnert an der Spitze oder Olaf Scholz: Hat die SPD keine Ahnung, wer sie ist, wird sie sich immer weiter selbst verlieren. Und bald verschwunden sein.

Wer steckt hinter Civey-Umfragen?

An dieser Stelle haben Leser in der App und auf der mobilen/stationären Website die Möglichkeit, an einer repräsentativen Civey-Umfrage teilzunehmen. Civey ist ein Online-Meinungsforschungsinstitut mit Sitz in Berlin. Zur Erhebung seiner repräsentativen Umfragen schaltet die Software des 2015 gegründeten Unternehmens Websites zu einem deutschlandweiten Umfragenetzwerk zusammen. Neben SPIEGEL ONLINE gehören unter anderem auch der "Tagesspiegel", "Welt", "Wirtschaftswoche" und "Rheinische Post" dazu. Civey wurde durch das Förderprogramm ProFit der Investitionsbank Berlin und durch den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung finanziert.

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