SPD im freien Fall Erst mal Opposition
Sozialdemokraten sind leidgeprüfte Menschen. In den vergangenen Jahren gab es nur wenige Wahlen im Bund und den Ländern, bei denen die SPD jubeln konnte. Häufig musste die Parteiführung anschließend eine bittere Niederlage eingestehen (oder was man als Politiker an solchen Abenden sonst gerne an entsprechenden Vokabeln bemüht). An diesem Sonntagabend allerdings ist die Niederlage so niederschmetternd, dass im Willy-Brandt-Haus einfach nur noch Ruhe herrscht, als die Prognosen um 18 Uhr über die Bildschirme laufen.
Keine "Ohs", keine "Ahs", als die Zahlen für die SPD bei ARD und ZDF gezeigt werden. Vollkommene Stille.
Natürlich kommt die Niederlage nicht ganz überraschend, in den letzten Umfragen vor der Bundestagswahl zeichnete sich das miserable Ergebnis ab. Aber der Schock scheint nun so tief zu sitzen bei den Genossen, dass selbst die Kraft für Wehklagen fehlt.
Knapp 21 Prozent - das ist das schlechteste Ergebnis in der Nachkriegszeit. Noch mal weniger als die 23 Prozent bei der Bundestagswahl vor acht Jahren. "Bist du Katastrophentourist?", sagt ein Journalist zum anderen, nachdem die ersten Prognosen eingetroffen sind. Bei einem Ergebnis unter dem Resultat von 2009, hieß es in den vergangenen Tagen, werde es für Parteichef Martin Schulz schwer, weiterzumachen.
Doch dieser Martin Schulz, der als Kanzlerkandidat die Amtsinhaberin Angela Merkel ablösen wollte, denkt gar nicht daran, seinen Platz zu räumen. Als er gegen 18.30 Uhr im Foyer der Parteizentrale die kleine Bühne betritt, reckt er den Daumen nach oben, winkt ins Publikum, das ihn freundlich empfängt, ein Teil sogar mit "Martin"-Rufen. Ein - Achtung - "bitterer und schwerer Tag" sei das, sagt Schulz. Aber dann dankt er erst mal all denen, die Wahlkampf gemacht hätten, dafür gibt es wieder Beifall.
Man habe es offenbar nicht geschafft, die Wähler zu überzeugen, sagt Schulz - nun müsse sich die Partei neu aufstellen. Und zwar mit ihm. "Ich empfinde es als meine Aufgabe, das als Vorsitzender zu gestalten", sagt er.
Schulz weiß zu diesem Zeitpunkt, dass man ihn fürs erste gewähren lässt. Am späten Nachmittag saßen die Spitzengenossen in Kenntnis der zu erwartenden Zahlen ganz oben in der Parteizentrale zusammen, niemand erhob da das Wort gegen den Vorsitzenden.
Das liegt zum einen daran, dass Schulz in den vergangenen Monaten eine Menge Vertrauensvorschuss in der SPD gesammelt hat: Nach der überraschenden Nominierung Ende Januar als Parteichef und Kanzlerkandidat gelang es ihm, die SPD in den Umfragen innerhalb weniger Wochen auf Augenhöhe mit der Union zu bringen, ein Sieg gegen Angela Merkel schien plötzlich möglich. Die Partei liebte Schulz, 100 Prozent bekam er bei der Wahl zum Parteichef, Tausende traten auch wegen ihm in die SPD ein. Dann kamen die Niederlagen bei den Landtagswahlen im Saarland, in Schleswig-Holstein und schließlich sogar der Verlust der Staatskanzlei in Nordrhein-Westfalen - und weiter ging es abwärts mit den Werten von Schulz und seiner Partei. Auf ungefähr das Umfrageniveau, auf dem er gestartet war.

BTW 2017: Die ersten Lehren aus der Wahl
Schulz hat die SPD wiederbelebt, ihr Selbstvertrauen zurückgegeben, das bleibt trotz des Absturzes, die Unterstützung für ihn im Wahlkampf war groß. So einen drängt man nicht so leicht aus dem Amt, ein Putsch wie weiland 2008 gegen den damaligen Parteichef Kurt Beck ist ausgeschlossen.
Zum anderen macht Schulz am Wahlabend eine Ankündigung, die ihn ebenfalls im Amt stabilisiert: "Mit dem heutigen Abend endet die Zusammenarbeit mit CDU und CSU", sagt er im Willy-Brandt-Haus. "Ich habe der SPD-Führung empfohlen, dass die SPD in die Opposition geht" - da kriegen sich die Genossen im Publikum kaum mehr ein, schreien und Jubeln: weg mit der aus ihrer Sicht verhassten Großen Koalition.
Alle schauen auf die Niedersachsen-Wahl am 15. Oktober
Und es gibt noch einen Grund, den Parteichef zunächst nicht in Frage zu stellen: die vorgezogene Landtagswahl in Niedersachsen in drei Wochen. Da regiert bisher Stephan Weil, ein SPD-Ministerpräsident, der dieses Amt auch gerne fortführen würde - und seiner Partei mit einem Wahlsieg ein lange vermisstes Erfolgserlebnis bescheren könnte. Zu diesem Zweck soll aus Sicht von Weil und seiner Wahlkämpfer jegliche Unruhe in der Bundespartei vermieden werden.
Im Umkehrschluss heißt das: Nach der niedersächsischen Landtagswahl am 15. Oktober könnte in der SPD einiges doch noch anders kommen.
Ob dann beispielsweise die Absage an die Große Koalition, die Schulz auch am Sonntagabend in der sogenannten TV-Elefantenrunde beteuert, noch Bestand hat? Manch führender Genosse hat daran Zweifel, glaubt an pure Taktik. Tatsächlich wird sich die gerupfte Union, vor allem die CSU, schwer tun mit der Bildung einer Jamaika-Koalition. Also könnte es am Ende auch staatstragende Gründe für die SPD geben, doch wieder auf die Union zuzugehen, damit überhaupt eine Regierung zustande kommt. Die bayerische SPD-Chefin Natascha Kohnen warnt deshalb bereits, es dürfe für die GroKo-Absage "keine Hintertüren geben".
Und Schulz' Zukunft? Über die könnte nach der Niedersachsen-Wahl auch noch mal diskutiert werden. Dass der Parteichef nicht auch noch nach dem Vorsitz der Bundestagsfraktion greifen will, scheint inzwischen klar: Er wird den Gremien wohl die bisherige Arbeitsministerin Andrea Nahles für dieses Amt vorschlagen, die Wahl soll am Mittwoch sein.
Für den Parteivorsitz, der im Dezember ohnehin neu gewählt werden soll, drängt sich für die Fraktionsspitze niemand auf wie Nahles. Infrage käme der Hamburger Regierungschef und SPD-Vize Olaf Scholz, doch der hält sich - wie so oft, wenn es in der SPD um die Pole Position geht - erst mal zurück.
Mal sehen, ob das auch nach dem 15. Oktober so bleibt.
Video: Reaktionen auf die Hochrechnungen:
Im Video: Gewinner und Verlierer: