SPD-Parteitag Scholz fürs Hirn, Dreyer fürs Herz

Sozialdemokraten Olaf Scholz und Malu Dreyer beim Parteitag
Foto: Wolfgang Kumm / dpaDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Da ist er, der emotionale Moment, den die Genossen herbeigesehnt haben. Die kleine Überraschung, der Stimmungsmacher des digitalen Parteitags. Just hat Olaf Scholz seine Rede im Berliner CityCube beendet, da tritt Malu Dreyer an seine Seite. Überschwänglich lobt sie den Auftritt des Kanzlerkandidaten: »Ich habe mich wahnsinnig gefreut«, sagt die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin.
Im Überschwang sieht Dreyer ihren Parteifreund schon am Ziel: »Ich bin sehr froh und glücklich, dass Olaf Scholz unser Kanzler wird.« Also, korrigiert sie sich schnell, »Kanzlerkandidat erst mal«.
Viereinhalb Monate sind es noch bis zur Bundestagswahl. Und die Lage der SPD ist düster . Aber jetzt gehe es erst los, sagt Dreyer, es werde in die Hände gespuckt, »wir müssen kämpfen, jeden Tag«. Es ist nur ein kurzer Auftritt, aber Dreyer zeigt, warum viele in der SPD sich eine größere Rolle für sie im Wahlkampf wünschen: Sie liefert einen anderen Sound, eine Emotionalität, die dem kühlen, sachlichen Vizekanzler eher abgeht.
Versuche der Selbstvergewisserung
Und Scholz? Der muss am Sonntag lange warten, bis er dran ist. Für 14 Uhr ist seine Rede angekündigt, Hauptereignis des Parteitags. Doch die Antragsberatungen dauern länger als vorgesehen. Manche Genossen sprechen von einer Fehlplanung. Die SPD sei eben eine Programmpartei, verteidigen andere den Ablauf. Die Delegierten müssten die Gelegenheit haben, offene Fragen zu diskutieren. Wirklich strittig wird es an diesem Tag allerdings selten, lediglich beim Ziel der Klimaneutralität 2045 und bei der Wohnungspolitik begehrt ein Teil der Delegierten auf.
Viele Wortbeiträge dienen auch der Selbstvergewisserung – die SPD kreist gerne um sich selbst. Sie wolle noch »Lob und Dank an den Parteivorstand richten«, sagt eine Delegierte, als Scholz eigentlich schon an der Reihe sein sollte.
Olaf Scholz über Coronakranke auf einer Intensivstation
Als der Kandidat dann um kurz vor 16 Uhr die Bühne betritt, hält er eine kämpferische Rede. Zumindest inhaltlich. Er attackiert die Union und skizziert zum ersten Mal konkreter, wie er sich eine »Gesellschaft des Respekts« vorstellt, die im Mittelpunkt seiner Kandidatur steht. Wer Eltern im Pflegeheim habe, wisse spätestens jetzt, wie unersetzbar Pflegerinnen und Pfleger seien. Wer sich infiziert habe und ins Krankenhaus gekommen sei, habe die Professionalität und das Engagement der Beschäftigten erlebt.
Überall in Deutschland gebe es Männer und Frauen, die trotz Corona immer raus müssten. »Sie alle verdienen Respekt«, sagt Scholz. Niemand dürfe verächtlich auf andere herabblicken, »weil er sich für stärker hält, für reicher oder gebildeter, für besonders aufgeklärt oder besonders problembewusst«.
Schon zu Beginn seiner Rede wird Scholz persönlicher, als man das von ihm kennt. Er schildert einen Besuch auf einer Intensivstation in Cottbus: »Hinter den Glasscheiben sah ich Corona-Erkrankte – an Beatmungsgeräten. Dieser Anblick geht mir nicht aus dem Kopf.« Er könne sich nicht daran gewöhnen.
Und dann, etwa zur Hälfte seiner Rede, attackiert Scholz den Koalitionspartner. »Früher hieß es bei den Konservativen ja immer: ›Wir stehen für Maß und Mitte‹ – heute stehen sie für Maaßen und Maskenschmu.« Was Scholz meint: die Kandidatur des ehemaligen Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen in Thüringen und die Affäre um Unionsabgeordnete, die sich an der Pandemie bereichert haben.
»Risiko für Wohlstand und Arbeitsplätze« – Attacke gegen den Koalitionspartner
Noch schlimmer sei aber, dass die Union nicht von der Zukunft her denke. »Eine weitere von CDU und CSU geführte Regierung wäre ein Risiko für Wohlstand und Arbeitsplätze – ein Standortrisiko für unser Land«, sagt Scholz.
Die Grünen kritisiert er dagegen nur indirekt. Bei manchen gebe es die »Vorstellung, große Ziele allein würden genügen, um die Zukunft zu gewinnen«. Ja, der Klimawandel sei die entscheidende Frage in diesem Jahrhundert. Aber gute Absichten seien nicht genug, man brauche viel Fortschritt: technologisch, wissenschaftlich, sozial.
Auch zum Mietenstopp bekennt sich Scholz deutlicher als bisher. Es müsse eine »Atempause für Mieterinnen und Mieter« geben, sagt er. In angespannten Lagen dürften die Mieten nicht stärker steigen als die Inflation. »Dann halten die Einkommen wieder mit den Mieten Schritt«, sagt Scholz. »Und niemand muss Angst vor einer Mieterhöhung haben.« Das mache eine Gesellschaft des Respekts aus.
War das nun der in der Partei ersehnte Auftritt, der die Aufholjagd einleitet? In den Umfragen zeichnet sich bislang ein Duell zwischen Grünen und Union ab, die SPD liegt abgeschlagen auf Platz drei. Andererseits: Auch die Konkurrenz werde noch Probleme kriegen, erwartet man in der SPD.
Und immerhin: So pessimistisch und kraftlos, wie man die Partei in den vergangenen Wochen erlebt hat, präsentiert die SPD sich an diesem Tag nicht. Parteivize und Arbeitsminister Hubertus Heil zitiert den früheren US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt: »Wir haben nichts zu fürchten, außer der Furcht selbst.«