Designierte SPD-Chefin in Schleswig-Holstein Stegners politische Ziehtochter übernimmt

Sie drängte ihren einstigen Förderer zum Rückzug: Serpil Midyatli will Ralf Stegner an der Spitze der schleswig-holsteinischen SPD ablösen - und der Partei ein freundlicheres Gesicht geben.
Serpil Midyatli

Serpil Midyatli

Foto: SPD-Landtagsfraktion Schleswig-Holstein

Der Mann an der Spitze der Partei erkannte früh das Talent der Nachwuchspolitikerin und förderte sie nach Kräften. Vor der Landtagswahl 2009 bugsierte er sie auf einen sicheren Listenplatz, gegen den Widerstand von Parteifreunden, die ihretwegen nach hinten rücken mussten. Später schlug er sie für den Fraktionsvorstand in Kiel vor. Heute ist sie seine Stellvertreterin.

Der Mann heißt Ralf Stegner und ist seit mehr als zehn Jahren Vorsitzender und Fraktionschef der Sozialdemokraten in Schleswig-Holstein, Vizechef der Bundes-SPD. In den vergangenen Wochen hatte er offen gelassen, ob er wieder als Parteivorsitzender antreten würde, trotz einer verlorenen Landtagswahl, einer verlorenen Bundestagswahl und auch noch einer verlorenen Kommunalwahl.

Aber vor wenigen Tagen zeigte seine politische Ziehtochter ihr wahres Talent. Sie bewirbt sich jetzt um den Parteivorsitz, um Stegners Posten also. Gegen dessen ausdrücklichen Willen. Stegner habe getobt, erzählen Genossen.

Stegners Ex-Zögling heißt Serpil Midyatli und sie dementiert den Dissens nicht. Aller Voraussicht nach werden ihre Parteifreunde die 43-jährige Unternehmerin mit türkischen Wurzeln im Frühjahr zur Landesvorsitzenden wählen. Denn nur eine Woche nachdem Midyatli ihre Kandidatur im Parteirat bekannt gab, hat Stegner aufgegeben. Er wolle sich nicht noch einmal um den Landesvorsitz bewerben, verkündete er am Montag.

Am Tag danach, in seinem Büro mit Fördeblick im Landeshaus, wirkt er müde. Seit vielen Jahren ist der 58-Jährige dem Fernsehpublikum als roter Rambo bekannt, der in Talk-Shows oft verbissener kämpfte, als es seiner Sache guttut. Nun lobt er Serpil Midyatli tapfer als einen "Vulkan", obwohl er selbst im Ascheregen steht. Er selber werde im Bund künftig als "linker Außenstürmer" volle Power geben und in Kiel Fraktionschef bleiben.

Doch wieso sollte die Bundes-SPD sich Stegner weiter als Stellvertreter leisten, wenn dieser seine Hausmacht verloren hat? Und wie sicher ist es, dass die Kieler Fraktion Stegner bei der Wahl in gut einem Jahr noch einmal als Vorsitzenden bestätigt? Der oder die nächste SPD-Spitzenkandidatin könnte den Posten brauchen, um sich bei der nächsten Landtagswahl gegen den beliebten Ministerpräsidenten Daniel Günther (CDU) profilieren zu können.

Parteifreunde halten es für unwahrscheinlich, dass Midyatli Gegenkandidaten haben wird. Simone Lange hätte das Format, die Flensburger Oberbürgermeisterin, bekannt als Herausforderin von Andrea Nahles bei der Wahl zur Parteichefin. Aber Lange sagte sofort nach Midyatlis Ankündigung, sie unterstütze die Parteifreundin und werde nicht kandidieren. Der Eckernförder Bundestagsabgeordnete Sönke Rix hat zwar im Sommer mit wichtigen Genossen im Land Kaffee getrunken, um seine Chancen zu sondieren - dann aber offenbar entmutigt aufgegeben.

"Links, dickschädelig und frei"

Denn Serpil Midyatli verkörpert nicht nur das trotzige Motto der Genossen im Norden "links, dickschädelig und frei", sie kommt auch gut an. Ralf Stegner sagt, sie sei ihm ähnlich, weil auch sie kein Mensch der Grautöne sei, sondern die Dinge gern Schwarz oder Weiß sehe. Politisch mag Stegner recht haben. Menschlich wirkt sie ganz anders, mit ihrem eindringlichen Blick, dem verschmitzten Lächeln, den Händen, die durch die Luft fliegen, wenn sie redet.

Ihr Büro im Landeshaus ist im Vergleich zu Stegners bescheiden. Als sie merkt, dass der Kaffee, den sie aus der Thermoskanne serviert, nur lauwarm ist, springt sie auf und holt frischen. Sie sei zu sehr Gastronomin, als dass sie so etwas anbieten könne. Geschickt ist sie außerdem, sie sagt nicht viel darüber, wie genau sie denn ihre am Boden liegende Partei zu "neuer Stärke" führen möchte. Sie wolle den Partei-Kommissionen, die an Programm und Struktur feilen, da nicht vorgreifen.

Ralf Stegner

Ralf Stegner

Foto: Bodo Marks/DPA

Ihren Willen zur Macht hat sie bereits demonstriert, als sie sich im letzten Dezember für den Bundesvorstand bewarb. Sie ist jetzt in dem Gremium mit 45 Mitgliedern neben Stegner die zweite Schleswig-Holsteinerin - ein Umstand, der es für ihn schwerer machen wird, sich dort zu halten. Schleswig-Holstein gilt als zu klein für zwei Vertreter in der Bundes-SPD.

"Da dürfen dann auch mal andere"

In Kiel, so sagt sie, werde sich die Partei unter ihr als Landesvorsitzender "breiter aufstellen". Sie wolle ein Team, in dem Ralf Stegner sich einordnen müsse: "Da dürfen dann auch mal andere." Das sind Worte einer selbstbewussten Frau, die gewohnt ist, dass andere sie unterschätzen.

Midyatli wechselte nach der Mittleren Reife auf ein Wirtschaftsgymnasium und wollte Jura studieren, ehrgeizige Pläne für eine Tochter türkischer Migranten aus dem Kieler Brennpunktstadtteil Gaarden. Doch es kam anders.

Ihr Vater, der eingewandert war, um bei HDW auf der Werft zu arbeiten, hatte eine alte Tischlerei gekauft. Das Gebäude wollte er an einen Restaurantbetreiber verpachten. Ein Onkel habe gesagt, das könne doch Serpil machen, die habe schon zweimal in den Sommerferien sein italienisches Restaurant geschmissen.

So wurde sie mit 18 Jahren Leiterin eines Restaurants mit einem Saal für 450 Gäste. Sie kaufte Möbel, schrieb Speisekarten, organisierte Betriebsfeiern, Hochzeiten, Weihnachtsfeste. Das Restaurant "Mega Saray" führen heute ihre beiden Brüder. Sie selber betrieb dann lange mit ihrem Mann eine Konzerthalle. "Ich habe mit Menschen aller Altersgruppen und aller Schichten gearbeitet", sagt sie. Sie trug Verantwortung für Mitarbeiter, den Umsatz, die Buchhaltung. Früh war sie Chefin von Angestellten, die deutlich älter waren als sie.

Ihr Lebensweg kann als Paradebeispiel erfolgreicher Integration gelten, aber Midyatli meint, der Staat und seine Institutionen hätten ihr dabei kaum geholfen. Sie habe sogar die erste Klasse wiederholen müssen, weil ihre Lehrerin davon ausgegangen sei, dass türkische Kinder sowieso kein Deutsch können. Sie hatte allerdings Glück im Unglück: Ihre zweite Grundschullehrerin habe sie dann ausgesprochen gefördert. Mit 15 Jahren wurde sie zur Schulsprecherin gewählt. Und von da an kamen immer wieder Leute auf sie zu.

Vor drei Jahren war es der Heimatbund von Schleswig-Holstein: Ob sie nicht Lust habe, in den Vorstand einzutreten? Man wolle den Volkstanzvereinen ein modernes Image verpassen. Midyatli, die Muslimin ist, machte mit. Zuhause erzieht ihr Mann die beiden Söhne, sie verdient das Geld.

"Authentisch" ist die Vokabel, die Politiker in Kiel am meisten benutzen, wenn sie Midyatli beschreiben sollen. Das sagt man auch Ralf Stegner nach: Man hat ihm seine schlechte Laune abgenommen.

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