Aggressiveres Virus
SPD und FDP kritisieren mangelhafte Überwachung der Corona-Mutante
Weil die britische Corona-Mutante in Deutschland kaum nachverfolgt werden kann, schlagen die Generalsekretäre von SPD und FDP Alarm. Wieder steht Gesundheitsminister Spahn im Zentrum der Kritik.
Corona-Testzentrum auf dem Berliner Flughafen BER: Sorge vor der neuen Virusmutante
Foto: Paul Zinken / dpa
Die ersten Meldungen über das mutierte, möglicherweise aggressivere Coronavirus erreichten die Öffentlichkeit vor Jahreswende aus Großbritannien. Mittlerweile ist es dort wahrscheinlich schon zur dominierenden Variante geworden.
In der deutschen Politik wird das mit täglich wachsender Besorgnis gesehen, die ersten Fälle sind hierzulande bereits aufgetreten, zuletzt in Dresden.
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) ging zuletzt auf die Mutation in einer Videoschalte mit der Klausurtagung der CSU-Landesgruppe in Berlin ein. Sie warnte nach SPIEGEL-Informationen vor jeder weiteren Ausnahme von den strengen Maßnahmen: »Wir können das Virus nicht betrügen.« Wenn die Fälle der Mutation zu viel würden, verdrängten sie die eigentliche Variante, das wäre eine große Gefahr: »Wir dürfen uns nichts vormachen, die Mutationen sind schon da«, wurde die Kanzlerin in CSU-Kreisen zitiert.
»Wir dürfen uns nichts vormachen, die Mutationen sind schon da«
Angela Merkel
Doch im Gegensatz zum Vereinigten Königreich kann die Mutante hierzulande wegen fehlender Laborkapazitäten nur äußerst eingeschränkt verfolgt werden. Laut einem Bericht von NDR, WDR und »Süddeutscher Zeitung« wird in Großbritannien etwa jeder 15. positive Corona-Test einer sogenannten Genom-Sequenzierung unterzogen. Das ist eine Analysemethode, die es ermöglicht, Veränderungen im Bauplan des Virus zu entdecken. In Deutschland hingegen würde nur knapp jeder 900. positive Corona-Test entsprechend untersucht.
Zudem berichten die drei Medien über ein Schreiben vom 19. November 2019, das die Gesellschaft für Virologie gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Hygiene und Mikrobiologie an Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) geschickt habe – also vor Ausbruch der Corona-Pandemie. In dem Brief heißt es demnach mahnend, ein »ministerielles Eingreifen« sei »unausweichlich geworden«. Ein beträchtlicher Teil der Expertenlabore könne seine Aufgaben nicht mehr erfüllen. Bei einem Ausbruchsgeschehen fehlten »die Möglichkeiten der molekularen Surveillance«, also der Überwachung mittels eines genetischen Fingerabdrucks.
FDP-Generalsekretär Wissing
Foto: Bernd von Jutrczenka / dpa
Ein Vorgang, den SPD und FDP nun gegenüber dem SPIEGEL kritisieren.
»Die Liste der Versäumnisse und verpassten Gelegenheiten wird immer länger. Ich erwarte von Jens Spahn, dass er seinen Job als Gesundheitsminister macht und nicht hinter verschlossener Tür seine Machtoptionen in der Union auslotet«, sagte SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil dem SPIEGEL. Spahn sei vor Ausbruch der Pandemie auf die unzureichende molekulare Überwachung von Viren in Deutschland aufmerksam gemacht worden und habe »das anscheinend bis heute ignoriert«.
FDP-Generalsekretär Volker Wissing, der auch Vizeministerpräsident in Rheinland-Pfalz ist, sparte in seiner Kritik zwar Spahn namentlich aus, ging aber die Bundesregierung insgesamt an. »Die Vorwürfe der Virologen sind sehr ernst zu nehmen. Dass wir in Deutschland das Virus weniger sorgfältig kontrollieren als Dänemark oder Großbritannien, ist mehr als enttäuschend«, sagte er dem SPIEGEL.
Die Bundesregierung dürfe nicht aus Kostengründen »zusätzliche Risiken für die Bevölkerung eingehen«. Und weiter: »Wenn Warnungen der Wissenschaft nicht ernst genommen wurden, läuft etwas schief. Das Krisenmanagement der Bundesregierung offenbart immer mehr Sicherheitslücken«, so der FDP-Politiker und Landeswirtschaftsminister.
Das Problem: Heutzutage wird zwar an vielen Universitäten in Deutschland sequenziert, allerdings nur in bescheidenem Ausmaß, weil die Arbeit nicht ausreichend finanziert wird, wie aus dem Brief der Virologen vom November 2019 an Spahn hervorgeht. »Die finanzielle Ausstattung vieler Nationaler Referenzzentren und Konsiliarlabore durch das Bundesgesundheitsministerium ist seit vielen Jahren völlig unzureichend, intransparent und erfolgt auf stereotype Weise durch Pauschalbeträge«. Notwendige Untersuchungen könnten »nicht abgerechnet werden und unterbleiben daher in vielen Fällen«,
SPD-Politiker Klingbeil
Foto: Annegret Hilse/REUTERS
Der Virologe Hendrik Streeck sagte der »Süddeutschen Zeitung«, eine ebenso starke Virenüberwachung wie in Großbritannien ließe sich auch in Deutschland sehr schnell aufsetzen: »Wenn wir den Auftrag hätten, jede hundertste oder zehnte Probe zu sequenzieren, dann würden wir das sofort tun.« Eine Sequenz schlage mit etwa 50 Euro zu Buche – also genau so viel, wie die Krankenkassen heute für jeden PCR-Test ausgeben würden.
Angesichts der Berichte aus den Fachkreisen der Virologen erklärte der FDP-Generalsekretär Wissing, den Menschen werde zurzeit enorm viel abverlangt: »Sie müssen sich darauf verlassen können, dass die Bundesregierung selbst auch sorgfältig arbeitet und alles unternimmt, um die Bevölkerung zu schützen.«
SPD-Generalsekretär Klingbeil forderte, Spahn müsse jetzt als zuständiger Minister all seine Kraft darauf verwenden, »dass wir über das Impfen schnell einen Weg aus der Pandemie finden«. Das dürften alle erwarten, die sich seit Monaten massiv einschränkten.