Verfassungsgericht contra Parteien Das Machtspiel um die Sperrklauseln

Bundestag: Sperrklausel-Gesetz wurde im Eiltempo durch das Parlament gepeitscht
Foto: Bernd von Jutrczenka/ dpaVon Politikern in Berlin wird in jüngster Zeit kritisiert, das Bundesverfassungsgericht schränke die Gestaltungsfreiheit des Bundestags ungebührlich ein und beachte den Grundsatz der richterlichen Selbstbeschränkung nicht (sagt etwa Unions-Fraktionschef Volker Kauder). Hauptbeispiel sei das Urteil vom 26. Februar 2014, mit dem das Gericht die Dreiprozentklausel bei Europawahlen für verfassungswidrig erklärte. Andere, wie CSU-Chef Horst Seehofer, plädieren sogar dafür, die Sperrklausel für die Bundestagswahl im Grundgesetz zu verankern und so dem Verfassungsgericht die Grundlage seiner Entscheidung zu entziehen.
Kauder und Seehofer unterschlagen, wie praktisch die gesamte politische Klasse, bei ihrer Kritik aber den Kerngedanken des Urteils:
Normalerweise hat der Bundestag zwar einen weiten Gestaltungsraum. Das hat das Gericht bei seinem ESM-Urteil gerade wieder bestätigt. Über Sperrklauseln aber entscheidet der Bundestag - genau wie über Diäten und Parteienfinanzierung - in eigener Sache und ist deshalb befangen. Denn Sperrklauseln lenken die Stimmen und Mandate, die eigentlich kleinen Parteien zukommen müssten, auf die im Bundestag vertretenen Parteien um. Diese haben somit ein machtpolitisches Eigeninteresse an der Beibehaltung von Sperrklauseln.
Es besteht also die Gefahr, dass das Parlament sachliche Gründe für Sperrklauseln nur vorschützt, es den großen Parteien in Wahrheit aber darum geht, sich die Stimmen und Mandate ihrer kleineren Konkurrenten einzuverleiben.
Lästige Gerichtskontrolle
Aus diesem Grund ist eine intensive Kontrolle durch die Verfassungsgerichte notwendig. Es geht nämlich darum festzustellen, ob wirklich triftige Gründe für den Fortbestand einer Sperrklausel bestehen. Denn sie nimmt Millionen Bürgern ihr Stimmrecht. Dieser schwere Eingriff in das demokratische Hauptrecht in der repräsentativen Demokratie lässt sich nur rechtfertigen, wenn er wirklich erforderlich ist, um wesentliche Einschränkungen der Funktionsfähigkeit des Parlaments zu verhindern.
Natürlich ist die Gerichtskontrolle der Politik lästig, natürlich grenzt sie den "Raum freier politischer Gestaltung" des Bundestags ein. Dieser Freiraum ist aber kein Selbstzweck, sondern soll ausgewogene Entscheidungen ermöglichen, welche sicherzustellen gerade der Sinn der gerichtlichen Überprüfung ist. Das ist die entscheidende, die Rechtsprechung tragende Erkenntnis. Sie ist so einleuchtend, dass Politiker sich nicht anders zu helfen wissen, als sie auszublenden: Wenn die Eigeninteressen von Politikern und ihren Parteien betroffen sind, sie also, wie das Gericht formuliert, "in eigener Sache tätig" werden, ist das Vertrauen in die Richtigkeit der Gesetzgebung eben gering; um so intensiver muss dann die Gerichtskontrolle ausfallen.
Die schiefe Argumentation der Kritiker erklärt sich aus ihren Interessen an Mandaten, Geld und Macht, die sie gern hinter Gemeinwohlfloskeln verstecken. Wie kann man dem Hohen Haus bloß unterstellen, es würde nicht stets objektiv entscheiden? Weniger nachvollziehbar ist allerdings, dass auch manche Journalisten den Politikern solche aus der Arroganz der Macht entsprungene Voreingenommenheit durchgehen lassen, ohne entschieden nachzufragen.
Wie sehr die Berliner Politik ihre Macht ausspielt, um ihr schlechtes verfassungsrechtliches Gewissen zu kaschieren und eine offene Diskussion zu verhindern, war schon im Juni 2013 ganz deutlich geworden, als der Bundestag die Dreiprozentklausel beschloss:
- Die Fraktionen peitschten das Gesetz in kaum mehr als einer Woche durchs Parlament;
- die Mindestfristen, die eine ordentliche Gesetzesberatung ermöglichen sollen, wurden nicht eingehalten;
- die Warnung der Fachleute des eigenen Innenministeriums wurde unter Verschluss gehalten und nicht beachtet;
- ein dem Bundestagspräsidenten übersandter Appell von zahlreichen Staatsrechtslehrern, die ebenfalls eindringlich davon abrieten, eine Dreiprozentklausel bei Europawahlen einzuführen, wurde unterdrückt.
Es gibt in Wahrheit nämlich keine triftigen sachlichen Gründe für eine Sperrklausel bei Europawahlen. Im Europäischen Parlament sind schon jetzt über 160 Parteien vertreten. Fast alle Beschlüsse werden von den beiden großen Fraktionen, den Sozialdemokraten und den Bürgerlichen, gemeinsam getroffen, die regelmäßig mehr als die Hälfte der Mandate besitzen. Die Kommission, einmal im Amt, genießt Unabhängigkeit und ist nicht auf das Vertrauen des Parlaments angewiesen.
An alledem dürfte sich nichts Wesentliches ändern, wenn noch einige Abgeordnete kleinerer Parteien nach Brüssel kommen, von denen die meisten ohnehin von den bestehenden sieben Fraktionen integriert werden. Auch die Spitzenkandidatur von Martin Schulz und Jean-Claude Juncker bewirkt nichts anderes. Sie bringt ein Element der Direktwahl des Kommissionspräsidenten ins Spiel. Dies nun als Rechtfertigung für die Sperrklausel anzuführen, wie ihre Befürworter dies tun, weil dann die Einigkeit der beiden großen Fraktionen gefährdet wäre, erscheint aber nicht schlüssig. Das zeigt auch die Parallele auf kommunaler Ebene. Dort war die Einführung der Direktwahl der Bürgermeister in den neunziger Jahren umgekehrt der Grund, die Fünfprozentklausel bei der Wahl der Gemeindevertretungen abzuschaffen.
Im Übrigen: Die genannten Eigenheiten des Europäischen Parlaments weist der Bundestag gerade nicht auf. Das betont auch das Gericht selbst. Seine Urteile lassen die Sperrklausel bei Bundestagswahlen also unberührt.