Spionage Stasi-Lob für den BND
Hamburg - Der Menschenstrom schwoll an, Tag für Tag. Immer mehr Bürger kehrten ihrer DDR den Rücken - Schüler und Studenten, Facharbeiter, Ärzte, Professoren. In manchen Monaten 30.000, in anderen 50.000, und der Exodus schien kein Ende zu nehmen.
Dann der jähe Stopp, nachdem fast drei Millionen abgewandert waren: Punkt ein Uhr morgens am 13. August 1961, der intern vereinbarten "X-Zeit", begann ein aufregendes Kapitel der jüngeren Weltgeschichte - in Berlin wurde die Mauer gebaut. Sie sollte, das ist längst Historie, dieser Massenflucht Einhalt gebieten. Sie hatte aber auch, davon sind Geheimdienstexperten wie der britische Historiker Paul Maddrell nach einschlägigem Aktenstudium mittlerweile überzeugt, ein zweites Ziel: Bollwerk zu sein gegen Spione, vor allem gegen jene des Bundesnachrichtendienstes (BND).
Das Schlagwort hieß: "Sicherung der Staatsgrenze", eine Sicherung nach innen, die schließlich durch aufwendige Anlagen entlang der deutsch-deutschen Grenze komplett wurde, freies Schussfeld eingeschlossen.
Immer wieder mussten und müssen die Schlapphüte aus Pullach sich auseinandersetzen mit Kritiken, die Agenten nicht gerne hören: schlecht informiert, zu spät informiert, gar nicht informiert. Ihre obersten Chefs, die Bundeskanzler, straften sie oft ab mit gehörigem Desinteresse, wie es Konrad Adenauer und Helmut Kohl taten, Helmut Schmidt nannte den BND gar einen "Dilettantenverein".
Doch es gibt ein Lob, sogar in schriftlicher Form. Und es kam ausgerechnet vom ärgsten Gegner. Der BND, so resümierte nämlich um 1980 die für Spionageabwehr zuständige Hauptabteilung II des Ministeriums für Staatssicherheit, habe nicht nur bestens Bescheid gewusst über das "auf dem Territorium der DDR dislozierte militärische Potential" der Sowjets - was bei einer durchaus möglichen kriegerischen Auseinandersetzung von erheblichem Vorteil gewesen wäre. Mehr noch: Auf die Schließung der Grenze sei der BND von allen westlichen Geheimdiensten "am besten vorbereitet" gewesen, sagt Maddrell. Seine Quellen sind über jeden Zweifel erhaben: eben einschlägige Stasi-Berichte.
Gehlen hatte Aufklärung in der Wehrmacht gelernt
Die Grundlage für eine erfolgreiche militärische Aufklärung hatte der erste BND-Chef Reinhard Gehlen noch als Offizier in der Hitler-Armee gelegt. Damals leitete er im Oberkommando des Heeres die Abteilung "Fremde Heere Ost"; ihr oblag es, die Kampfkraft der sowjetischen Soldaten und deren Verbündete in "Feindlageberichten" zu analysieren. Das geballte Wissen, dessen Erhebung 1940 begann, war auf 26.000 Karteikarten niedergelegt; sie werden heute im Bundesarchiv aufbewahrt.
Ein Geheimdienstschatz also, der für den egomanischen Gehlen ("Ich, der Schöpfer und Chef des Bundesnachrichtendienstes") erst einmal das Entree in US-amerikanische Dienste bedeutete, "Org Gehlen" hieß die Einheit. Seine Leute, etliche von ihnen NS-Schergen, unterwanderten nicht nur Agentennetze des Ostblocks - sie schöpften auch im Rahmen der Operation "Hermes" aus der Sowjetunion heimkehrende Kriegsgefangene nach allem ab, was militärstrategisch von Bedeutung war. Fachleute schätzen, dass die Informationen der Amerikaner über Moskaus Streitkräftestruktur bis zu 70 Prozent von der Org Gehlen stammten.
Ab 1951 war der Ostteil Deutschlands klandestines Aufmarschgebiet der Gehlen-Truppe, und zwar flächendeckend. Obschon die Militärspionage als höchst schwieriges Metier in der nachrichtendienstlichen Szenerie des geteilten Europas galt und so manchem Nachrichtenmann als Königsdisziplin, sei es durchaus erfolgreich gelungen, wichtige Informationen über fast "jeden sowjetischen Verband sowie über Infrastruktur und Truppenbewegungen" zu sammeln und auszuwerten, so die Militärexperten Matthias Uhl und Armin Wagner.
Die Nachrichten aus der DDR stammten oft nicht von Spitzenagenten - sondern einfachen Bürgern
Die Nachrichten aus der Welt jenseits des Eisernen Vorhangs, mit denen Gehlen auch seine Kriegskartei komplettierte, stammten damals nicht etwa von Spitzenagenten, wie sie in so manchem Thriller auftreten. Was der BND - so heißt der Dienst seit 1956 - wusste, hatten unscheinbare DDR-Bürger herangeschafft, die als Hiwis in den Kasernen der Russen ein- und ausgingen: Telefonisten und Handwerker, Heizer oder Lieferanten und Schreibkräfte. Abwehroffiziere der Stasi hatten den Eindruck, Pullach betreibe "totale Spionage" - fast ein Kompliment. Deshalb entging es den Spähern, deren Zahl damals auf 4000 geschätzt wird, beispielsweise auch nicht, dass 1960 in der DDR zwei neue "schwere Panzerdivisionen" einschließlich operativer und taktischer Atomwaffen aufgestellt worden waren.
Pullachs Meldungen nach Bonn, zum Regierungssitz, müssen demnach qualifiziert und aussagekräftig gewesen sein, selbst höchste sowjetische Stabsoffiziere verfügten kaum über ein solches Wissen. Und da spätestens seit dem Juni-Aufstand 1953 immer wieder darüber gemunkelt wurde, die offene Grenze zwischen beiden deutschen Staaten könne irgendwann einmal geschlossen werden, dachte sich der BND frühzeitig "alternative Kommunikationsmittel" (Maddrell) aus - Kurzwellensender etwa oder sogenannte tote Briefkästen, die dann von "Reiseagenten" geleert werden sollten.
Für den Fall der Fälle bestimmte Gehlen auch einen Statthalter auf feindlichem Territorium: Der Mann solle dann, notierte ein Stasi-Mitarbeiter der Hauptabteilung IX, "mit der Führung einer sogenannten Leitstelle des BND im Gebiet der DDR beauftragt werden".
BND hatte Zugang zu sensiblen Informationen in der DDR
Parallel zur Militärspionage war es dem BND bereits Anfang der sechziger Jahre gelungen, sich auch einen Zugang zu "sensiblen Informationen" zu verschaffen, die in der abgeschotteten Ost-Berliner Staats- und Parteiführung "nur einem sehr begrenzten Personenkreis bekannt" gewesen seien, schreibt das Autorengespann Uhl/Wagner in der Oktober-Ausgabe der renommierten "Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte".
Offenbar gab es keinen Informanten unmittelbar im Kernbereich des Regimes, wohl aber - darauf deutet die Quellenlage hin - jemanden so dicht dabei, dass der BND als möglicherweise erster Geheimdienst zeitnah vorhersagen konnte, was am 13. August 1961 schließlich auch geschah: Abriegelung der Grenze in Berlin. Ein durchaus erstaunlicher Erfolg. Historiker schätzen den Kreis der tatsächlich Eingeweihten nämlich auf "nur etwa 60 Personen".
Für Spezialisten wie den in Wales lehrenden Maddrell ist bei dieser Aktenlage längst klar, dass der Mauerbau eben auch ein Ergebnis sicherheitsorientierter Politik des Ostens war, verbunden mit der Flüchtlingsfrage. Obwohl bis jetzt nicht alles ausgeforscht sei, gibt ihm die Faktenlage heute schon recht: Seit dem Sommer 1961 begann die Zahl der Nachrichten von drüben beständig zu schwinden, weil die Arbeit im kasernierten Staat tatsächlich schwieriger wurde; später schließlich verlor zumindest die militärische Spionage an Bedeutung, denn die neue Ostpolitik bedeutete gleichzeitig auch Entspannungspolitik.
Und der Job drüben wurde danach immer gefährlicher: Fünf Jahre nach dem Bau der Mauer, 1966, stammte jeder dritte in der DDR abgeurteilte BND-Spion aus der Bundesrepublik.