Debatte um Online-Parteitage Piraten drängen auf Mitmachrevolution

Piraten-Mitglieder bei einer Versammlung im Februar: Wie sinnvoll ist ein Online-Parteitag?
Foto: Stephanie Pilick/ dpaBerlin - Wenn du nicht mehr weiter weißt, gründe einen Arbeitskreis - diesen alten Spruch kann man bei den Piraten wunderbar anwenden. Nur dass bei den Piraten aus einem Arbeitskreis ein Barcamp wird, in dem gebrainstormt und viel, sehr viel, debattiert wird. Am Wochenende ist es wieder so weit, das nächste Barcamp steht an. In Rostock trifft sich der harte Kern von Fans der sogenannten "Ständigen Mitgliederversammlung", kurz SMV.
Hinter dem sperrigen Titel verbirgt sich die Idee, anstatt aufwendig und teuer in großen Sälen zu tagen, sich im Internet zu verabreden. 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Das Instrument der SMV steht zugleich für ein Grunddilemma der Partei. Denn neben ihrer chaotischen Führung haben die Piraten ein zweites Riesenproblem: Sie stellen in Sachen Mitbestimmung Forderungen, die sie selbst nicht erfüllen. Die Partei hat noch immer keinen Weg gefunden, mit Hilfe des Internets wirkliche Beteiligung in den eigenen Reihen durchzusetzen. Jedenfalls keinen, auf den sich die Mehrheit einigen kann.
Bislang werden mit der Software Liquid Feedback auf Bundesebene zwar Meinungsbilder der Basis eingeholt. Verbindliche Beschlüsse kann die Basis aber nur auf Parteitagen treffen. Finale Abstimmungen nur mit physischer Präsenz? Das ist oldschool und undemokratisch, kritisiert ein Teil der Piratenpartei. Einige Piraten wollen durchsetzen, dass Abstimmungen im Netz auch zu offiziellen Positionen werden können.
"Wir lügen die Öffentlichkeit an"
Jetzt, auf dem Tiefpunkt der Umfragewerte, wittern sie die Chance, das Thema intern noch einmal nach oben zu ziehen. Auf dem Barcamp in Rostock wollen sie um Unterstützer werben. Eine prominente Befürworterin der SMV ist die Piratin Marina Weisband. Sie will das Instrument im Wahljahr vorantreiben. "Wir haben versprochen, dass bei uns die besten Ideen nach oben kommen. Aber in der Realität kommt nur das nach oben, was in einen Parteitag passt. So lange das so bleibt, lügen wir unsere Mitglieder und die Öffentlichkeit an", sagte sie SPIEGEL ONLINE.
Weisband steht mit der Forderung nicht allein da. "Ohne die SMV sind wir nicht entscheidungsfähig und kommen weiter nicht aus dem Quark, was unser Programm angeht", sagte die Berliner Piratin Katja Dathe SPIEGEL ONLINE. "Dann überlassen wir Entscheidungen unseren Vorständen und den paar tausend Piraten, die es zeitlich und finanziell schaffen, zum Parteitag zu reisen."
Und der Berliner Fraktionschef Christopher Lauer fragt, was die Piraten, die so anders und progressiv sein wollen, noch von anderen Parteien unterscheide, wenn man die Möglichkeiten des Internets nicht nutze: "Die Ständige Mitgliederversammlung wäre ein langfristiges Alleinstellungsmerkmal für die Piraten", sagte Lauer SPIEGEL ONLINE. "Die Mitglieder bekämen die Möglichkeit, die Politik einer Bundestagsfraktion aktiv mitzugestalten."
Geht das überhaupt?
Ob es jemals zu einer Bundestagsfraktion der Piraten kommt, ist zwar fraglich. Doch unabhängig davon spaltet die Frage, wie sinnvoll und vor allem juristisch sauber so ein permanenter Online-Parteitag wäre. Die Diskussion um die SMV ist so alt, beziehungsweise so jung, wie die Partei selbst. Beim letzten Parteitag in Bochum wurden von 800 Anträgen nur wenige Dutzend behandelt. Was erneut die Frage aufwarf, ob die Partei, die Delegierte ablehnt, an die Grenzen ihrer Entscheidungsfindung gestoßen ist.
Ein Votum für oder gegen die SMV wurde damals vertagt. Denn für viele Piraten ist das Instrument ein absolutes No-Go. Zu den Kritikern, die eine SMV kategorisch ablehnen, gehört neben dem bayerischen Piraten Andi Popp und dem früheren Bundesvorstand Matthias Schrade auch der schleswig-holsteinische Fraktionschef Patrick Breyer. "Natürlich ist es frustrierend, wenn man viel Arbeit in einen Antrag gesteckt hat und er aus Zeitgründen nicht behandelt wird", räumt Breyer gegenüber SPIEGEL ONLINE ein. "Aber die SMV ist sicher nicht die Lösung für das Problem."
Es gäbe andere Möglichkeiten, die vollgestopften Bundesparteitage zu entlasten, etwa dezentrale Mitgliederversammlungen oder nachträgliche Urnenabstimmungen in den Landesverbänden. Datenschutzaktivist Breyer warnt vor verfälschten Mehrheiten. "Die Hoffnung, dass genug Piraten für eine repräsentative Entscheidung mitmachen, teile ich nicht." Sein Hauptargument ist die Manipulationsgefahr : "Wir Gegner der SMV wollen zu recht keine Wahlcomputer", so Breyer. "So lange die technischen Risiken bei digitalen Abstimmungen nicht beherrschbar sind, dürfen wir uns nicht allein auf diese verlassen."
Breyer fährt trotzdem nach Rostock, um mit den Befürwortern zu debattieren. Das Thema wird die Piraten ohnehin noch länger beschäftigen: Auf dem kommenden Bundesparteitag in Neumarkt in der Oberpfalz werden wohl mehrere Anträge, die eine SMV installieren wollen, auf der Agenda stehen.