Wahlkampf ohne Leidenschaft Merkels größte Gefahr
Berlin - Die Abgeordneten von Union und FDP klatschen, aber Wolfgang Schäuble ist das nicht genug. Von der Regierungsbank feuert er seine Leute mit deutlichen Handbewegungen an: länger, lauter! Die schwarz-gelben Parlamentarier legen pflichtbewusst noch eine kleine Schippe drauf. Zufriedenheit spricht aus dem Applaus. Begeisterungsstürme sehen anders aus.
Dabei hat Angela Merkel gerade eben ihren letzten Bundestagsauftritt in dieser Wahlperiode hingelegt. (Lesen Sie hier das Minutenprotokoll der Debatte.) Eine halbe Stunde lang lobt die Kanzlerin am Dienstagmorgen die Arbeit ihrer Koalition: "Es waren vier gute Jahre für Deutschland." Anschließend sitzt sie mit meist brummeligem Gesicht auf ihrem Kanzlerinnensessel, lauscht fast regungslos, wie Peer Steinbrück sie mit Vorwürfen überzieht. Auch die Koalitionsfraktionen lehnen sich wieder zurück, kaum ein Zwischenruf stört den SPD-Kanzlerkandidaten.
Die Lethargie in den Reihen der Schwarz-Gelben ist symptomatisch für den Wahlkampf der Koalition. Vor allem in der Union herrscht in diesen Tagen eine merkwürdige Stimmung, eine Mischung aus Siegesgewissheit und Trägheit. Es scheint, als habe die Kanzlerin bei ihren eigenen Leuten das bewirkt, wovor SPD-Konkurrent Steinbrück die Menschen im Land im TV-Duell gewarnt hat: Sie haben sich von Merkel einlullen lassen. Und das könnte für die CDU-Chefin im Endspurt bis zum 22. September gefährlich werden.
Es mag ja sein, dass sich die meisten Deutschen bei der Kanzlerin gut aufgehoben fühlen. Doch die Blitzumfragen nach dem TV-Duell lassen den Schluss zu, dass viele unentschlossene Wähler nun aufzuwachen scheinen. Sie sehen, dass es unter der Wohlfühldecke, die Merkel über dem Land ausbreitet, womöglich doch noch ein paar Probleme gibt - und genau darauf setzt die bisher noch abgeschlagene SPD.
"Das Land leidet unter notorischer Unterzuckerung"
Die Sozialdemokraten wittern ihre Chance, gezielt machen die Genossen Merkels mangelnde Leidenschaft inzwischen zum Thema. Im Bundestag wirft Steinbrück der Kanzlerin am Dienstag vor, sie habe dem Land eine Beruhigungspille verpasst. Deutschland, schimpft er, leide unter "notorischer Unterzuckerung", Grünen-Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt assistiert: "Sie sind dabei, das Land müde zu lächeln."
Das mag verzweifelt klingen. Aber die Sozialdemokraten hoffen, damit gerade bei jenen Wählern punkten zu können, die sich noch nicht entschieden haben, wo sie ihr Kreuz machen. Die Merkel-Taktik der asymmetrischen Demobilisierung, bei der die potentiellen Wähler des Gegners von der Urne ferngehalten werden sollen, soll diesmal nicht aufgehen. Schon vor Monaten haben die Sozialdemokraten daher ihr ursprüngliches strategisches Ziel, auch im bürgerlichen Lager zu wildern, aufgegeben. Stattdessen ist jetzt alles darauf ausgerichtet, all jene zurückzuholen, die schon mal SPD gewählt haben oder noch zweifeln. Selbst Forsa-Chef Manfred Güllner, der selten gute Nachrichten für die Genossen bereithält, sieht die SPD in dieser Gruppe im Vorteil. Die Partei habe in diesem Lager "noch Reserven", sagt er.
Das wissen auch die CDU-Strategen im Konrad-Adenauer-Haus. Die Unionsprominenz inklusive Kanzlerin warnt immer wieder öffentlich, dass das Rennen noch nicht entschieden sei. Die Umfragewerte für die Union sind zwar gut. Aber schon die Wahlergebnisse 2005 und 2009 lagen deutlich unter den Prognosen der Meinungsforscher kurz vor dem Wahltermin.
SPD will wenigstens Schwarz-Gelb verhindern
Konsequenzen werden daraus aber nicht gezogen: Im Wahlkampf setzt man weiterhin allein auf die Popularität der Regierungschefin. Die hält eisern an ihrer Strategie der Entdramatisierung und Umarmung in der politischen Auseinandersetzung fest.
Auch bei ihrem Auftritt im Parlament verweist sie lieber auf gemeinsame, parteiübergreifende Haltungen zu Syrien, gegen Fremdenhass, bei der Energiewende oder der Euro-Rettung als Unterschiede aufzuzeigen. Wenn sich in der Opposition Protest gegen die Vereinnahmung regt, entgegnet Merkel allen Ernstes: "Ich weiß gar nicht, warum Sie sich nicht mitfreuen können." Ob das zur Motivation der eigenen Parteianhänger taugt, ist ungewiss. Mancher Wähler beschäftigt sich inzwischen jedenfalls lieber mit der Halskette der Kanzlerin als mit ihren Argumenten - nach dem Motto: Ist ja eh alles eins.
Dass die Union unter Merkel in den vergangenen Jahren auf einigen Kerngebieten - der Atomenergie, der Wehrpflicht oder der Gleichstellung etwa - auf SPD-Linie geschwenkt ist, stellt aus Sicht der Berufsoptimisten bei den Sozialdemokraten allerdings kein Problem dar. Wenn beide Volksparteien auf vielen Feldern ohnehin ähnliche Positionen vertreten, dann könnte es vielen auch leichter fallen, das Original zu wählen, lautet das Argument all jener Genossen, die trotz der heftigen Niederlage 2009 und den derzeitigen Umfragen noch immer an ihre Mobilisierungsfähigkeit glauben.
Die Frage ist nur: Was soll dabei rumkommen? Wenn doch mehr eigene Leute als gedacht zur Wahl gehen und gleichzeitig einige bürgerliche Wähler zu Hause bleiben, müsste man am Ende wohl in die ungeliebte Große Koalition. Aber immerhin: Schwarz-Gelb wäre dann wenigstens verhindert. Es wäre ein kleiner Sieg.