Ministerpräsident Weil über Spahns Corona-Pläne »Das wirkt wie eine Steuererhöhung durch die Hintertür«

Krankenpflegerin auf Intensivstation (Archiv)
Foto: Marcel Kusch / dpaSPIEGEL: Beginnen wir mit einer Frage, die man in diesen Tagen häufig hört: Was machen Sie an Weihnachten, Herr Weil?
Stephan Weil: Feiern, nur anders als sonst.
SPIEGEL: Inwiefern?
Weil: Es fallen aus: der Kirchgang an Heiligabend, am ersten Weihnachtstag das größere Familientreffen und am zweiten Weihnachtstag das Treffen mit meinen ältesten Freundinnen und Freunden aus der Jugendzeit. Es findet statt: die Bescherung, das Abendessen und spätabends von Loriot »Weihnachten bei den Hoppenstedts«.

Michael Kappeler/ DPA
Stephan Weil, Jahrgang 1958, ist seit 2013 niedersächsischer Ministerpräsident. Davor war der Jurist und SPD-Politiker sieben Jahre lang Oberbürgermeister von Hannover. Stephan Weil ist verheiratet und hat einen Sohn.
SPIEGEL: Erwarten Sie Gäste?
Weil: Unseren Sohn. Alles streng nach den Corona-Regeln.
SPIEGEL: Ministerpräsidenten und Bundeskanzlerin haben Beschränkungen für die Hotels bis Januar beschlossen. Warum hält sich Niedersachsen nicht an diese Vereinbarung?
Weil: Das ist nicht ganz richtig. In den bisherigen Verordnungen steht, dass Übernachtungen zu touristischen Zwecken nicht gestattet sind. Dabei bleibt es auch in Niedersachsen. Besuche an Weihnachten bei der Familie oder bei engen Freunden zum gemeinsamen Feiern sind aber nach unserem Verständnis kein touristischer Zweck.
SPIEGEL: Da haben Sie sich ein Hintertürchen gesucht. Bundeskanzlerin Merkel war nicht begeistert von den Alleingängen einiger Länder...
Weil: Jedenfalls entspricht unser Vorgehen den Vereinbarungen. Wenn ich mir übrigens vorstelle, dass diese Übernachtungen andernfalls auf der ausgeklappten Couch stattfinden würden, wäre das nun auch kein Vorteil.
»Den Wechselunterricht nicht schönreden«
SPIEGEL: Was sagen Sie zur Kritik des Hotel- und Gaststättenverbandes Dehoga, der über verunsicherte Hoteliers klagt, man könne kaum unterscheiden, wer Tourist ist und wer Familienbesuche macht?
Weil: Wir haben bei der Einhaltung von Auflagen gute Erfahrungen mit der Hotellerie gemacht. Und es wird ja kein Massenphänomen sein.
SPIEGEL: Ein anderes kontroverses Thema sind die Schulen. Warum sind Sie gegen Wechselunterricht in getrennten Klassen, wie es unter anderem das Robert Koch-Institut vorschlägt?
Weil: Schulen sind nach den Erfahrungen in allen Ländern kein Treiber des Infektionsgeschehens. Und man soll den Wechselunterricht auch nicht schönreden: Bei motivierten Schülerinnen und Schülern, die zu Hause gefördert werden, funktioniert Wechselunterricht sicher gut. Aber bei denjenigen, die weniger motiviert sind und zu Hause nicht unterstützt werden, machen wir uns Sorgen.
SPIEGEL: Sind die Empfehlungen des RKI für Sie nicht der Weisheit letzter Schluss?
Weil: Sie sind wichtig in vielen Fragen, die wir gerade rings um Corona haben. Man muss aber immer auch abwägen zwischen dem Schutz vor Infektionen und den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Schäden, die damit verbunden sind.
SPIEGEL: Halten Sie die beschlossenen Maßnahmen für ausreichend? Bayerns Ministerpräsident Markus Söder denkt schon über Verschärfungen an Silvester nach, in Baden-Württemberg gelten die Feiertagslockerungen ohnehin nur bis zum 27. Dezember.
Weil: Dass man darüber in Hotspots in Bayern nachdenkt, kann ich verstehen. In Niedersachsen haben wir derzeit eine eher erfreuliche Entwicklung. Deswegen stellt sich mir die Frage einer Verschärfung im Moment nicht.
SPIEGEL: Haben Sie eine Erklärung dafür, warum im Norden die Zahlen sinken, während in Ost- und Süddeutschland die Situation dramatisch ist?
Weil: Das mag auch eine Frage der Mentalität sein. Den Norddeutschen sagt man nach, sie seien nüchterner beziehungsweise ein wenig dröge. Es mag sein, dass eine bestimmte Mentalität jetzt in der Pandemie hilft. Aber ich bin auch nur Hobbyvirologe und kann mir da kein ernsthaftes Urteil bilden.
SPIEGEL: Zuletzt haben Ministerpräsidenten und Kanzlerin den Shutdown bis zum 10. Januar verlängert. Was kommt danach? Müssen sich Gastwirte und Hoteliers auf einen Winter ohne Gäste einstellen?
Weil: Ich wüsste auch gerne, wie bis dahin die Entwicklung der Infektionsgefahr sein wird. Dann haben wir ja die Festtage und den Jahreswechsel hinter uns. Wir hoffen, dass das Feiern die Zahlen nicht wieder hochtreibt.
SPIEGEL: Haben Sie einen Überblick über die Kosten, die durch Corona in Niedersachsen bislang entstanden sind?
Weil: Wir werden in diesem Jahr bei einer sehr hohen Neuverschuldung von mehr als neun Milliarden Euro landen. Die Erholung der öffentlichen Finanzen wird ihre Zeit brauchen. Die entstandenen wirtschaftlichen Schäden kann ich noch nicht abschätzen. Auch die sozialen Schäden sind gravierend. Wir sprachen ja über die Bildung. In vielerlei Hinsicht ist Corona für unsere Gesellschaft ein Einschnitt, auch kulturell. Der gute alte Handschlag, der noch vor neun Monaten selbstverständlich war, hat wohl seine beste Zeit hinter sich.
»Die Forderung von Herrn Brinkhaus ist ohne Substanz«
SPIEGEL: Wann wird die gelockerte Schuldenbremse in Niedersachsen wieder angezogen?
Weil: Schrittweise nach den geltenden Regelungen. Die Neuverschuldung ist durch diese besondere Notlage berechtigt, sie muss dann nach und nach wieder bis auf null reduziert werden. Es wird in den kommenden Jahren weniger zu verteilen geben, das ist klar.
SPIEGEL: Sie halten also an der Schuldenbremse fest.
Weil: Ich habe noch nie in der Fankurve für die Schuldenbremse gesessen, aber sie steht im Grundgesetz. Wir werden uns selbstverständlich daran zu halten haben.
SPIEGEL: Die Bundesregierung trägt derzeit einen Großteil der Corona-Hilfen. CDU-Fraktionschef Ralf Brinkhaus fordert die Länder auf, sich finanziell stärker zu beteiligen. Was halten Sie davon?
Weil: Es hat aus guten Gründen schon aus der Union heraus harte Kritik an diesem Vorstoß gegeben. Die Forderung von Herrn Brinkhaus ist ohne Substanz. Die Länder können keine höheren Ausgaben tragen und haben gar nicht die Möglichkeit, etwa durch Steuererhöhungen, wieder in schwarze Zahlen zu kommen. Der Bund hat da ganz andere Möglichkeiten, nicht zuletzt bei der Kreditaufnahme.
SPIEGEL: Können Sie sich Steuererhöhungen vorstellen?
Weil: Steuererhöhungen wird es zumindest bis zu den Bundestagswahlen 2021 wohl sicher nicht geben. Was danach kommt, weiß ich nicht. Aber selbstverständlich müssen wir über die Verteilung der Lasten reden.
SPIEGEL: Gerne.
Weil: Bundesgesundheitsminister Jens Spahn will den Beitragszahlern der gesetzlichen Krankenversicherungen mit dem Versorgungsverbesserungsgesetz den Löwenanteil der Corona-Kosten aufbrummen. Von 16 Milliarden Euro für Schutzausrüstung, Tests und so weiter sollen die gesetzlichen Krankenversicherungen elf Milliarden Euro schultern. Den Rest will der Bund tragen, und die Privatversicherten bleiben außen vor. Wenn das Realität wird, sind fast sämtliche Rücklagen zum Beispiel der AOK Niedersachsen, die in den vergangenen Jahren gut gewirtschaftet hat, mit einem Schlag weg und die Beiträge müssen erhöht werden. Eine einseitige Belastung der gesetzlich Krankenversicherten für Kosten der Allgemeinheit darf nicht sein. Das wirkt wie eine Steuererhöhung durch die Hintertür, aber eben nur für die gesetzlich Versicherten.
SPIEGEL: Irgendwo müssen die Milliarden ja herkommen. Was ist Ihr Vorschlag?
Weil: Wir müssen auf jeden Fall auch die Versicherten der privaten Krankenversicherungen zur Finanzierung der Corona-Kosten heranziehen und über einen höheren Bundesanteil reden. Schließlich ist die Bundeskasse auch die Kasse der gesamten Solidargemeinschaft. Außerdem fällt in der Krise auf, dass Selbstständige bislang keine Arbeitslosenversicherung haben. Arbeitslosigkeit war in deren Welt bislang kaum vorgesehen und führt nun gerade bei Soloselbstständigen zu großen Problemen. Nun muss der Staat mit Transferleistungen einspringen. Die Lehre muss sein: Wir brauchen eine entsprechende Versicherungspflicht für Selbstständige.
SPIEGEL: Spahn trickst bei den Corona-Kosten?
Weil: Es ist jedenfalls keine gerechte Politik, wenn ich privat Versicherte, also insbesondere Wohlhabende, Selbstständige und Beamte von allen Kosten freihalte und die Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherungen über höhere Beiträge die Rechnung allein bezahlen müssen.
SPIEGEL: Heißt das nicht in der Konsequenz, dass die Bundesregierung doch über Steuererhöhungen nachdenken muss?
Weil: Ich bin jedenfalls dafür, dass man ehrlich sagt, wie hoch die durch die Pandemie entstandenen Kosten sind und wer sie tragen soll.
SPIEGEL: Die Gesundheitskosten sind nur ein kleiner Teil der Gesamtrechnung. Gerade erhielt das weltgrößte Reiseunternehmen TUI mit Sitz in Hannover erneut ein Milliarden-Hilfspaket. Wie lange kann das noch gut gehen?
Weil: TUI ist in normalen Zeiten ein kerngesundes Unternehmen, das mit seinem Geschäftsmodell Gewinne erzielt. Insofern erscheint es mir wirtschaftlich sinnvoll, was Finanzminister Olaf Scholz und Wirtschaftsminister Peter Altmaier in dieser Hinsicht machen. Würden wir TUI fallen lassen, müssten überall in Deutschland Reisebüros schließen. Auch nach der Krise hätten wir in dieser Branche massive Steuerausfälle zu verzeichnen. Am Ende käme uns das viel teurer, als den Konzern jetzt zu unterstützen.

Weil mit VW-Chef Herbert Diess
Foto: Swen Pfoertner/Pool via REUTERSSPIEGEL: Ihr Bundesland stünde auch ohne Corona vor grundsätzlichen Veränderungen. Stichwort Klimawandel, Mobilität. Sehen Sie sich auf dem richtigen Weg? VW fährt Tesla bei der Elektromobilität hinterher.
Weil: Tesla ist wirklich eine beeindruckende unternehmerische Leistung – ohne jede Abstriche. Aber wenn ich einmal vergleiche, welchen ungeheuren Fortschritt Volkswagen in den letzten drei Jahren gemacht hat, sowohl beim Thema Elektromobilität wie auch bei der Digitalisierung, dann sind wir gut aufgestellt. Während der Krise hat Volkswagen erstaunlicherweise weltweit Marktanteile dazugewonnen. Es gibt inzwischen eine große Palette mit Elektromodellen bei VW. Das einzige Problem ist die Kapazität bei den Batteriezellen. Wir brauchen in Deutschland einen Schub bei der Produktion von Autobatterien.
SPIEGEL: Wird Vorstandschef Herbert Diess an Bord bleiben?
Weil: Da bitte ich vielmals um Verständnis. Aber ich bin als Aufsichtsrat gehalten und immer gut damit gefahren, bei solchen Fragen einfach ganz konsequent den Mund zu halten.