Bartholomäus Grill

Sterbehilfe Ein Wunsch, den man nicht abschlagen darf

Der Bundestag hat eine Liberalisierung der Sterbehilfe abgelehnt. Vielleicht hätte mancher Abgeordnete anders abgestimmt, wenn er Erfahrungen mit einem leidenden Menschen gemacht hätte, dessen letzter Wunsch es ist, selbstbestimmt sterben zu dürfen.
Therapeutin hält die Hand einer todkranken Hospiz-Bewohnerin (Archivbild)

Therapeutin hält die Hand einer todkranken Hospiz-Bewohnerin (Archivbild)

Foto: Sebastian Kahnert/ dpa

"Wir sind die Volksvertreter, vertreten wir das Volk!", rief der CDU-Abgeordnete Peter Hintze in der ungewöhnlich emotionalen Bundestagsdebatte über die Neuregelung der umstrittenen Sterbehilfe. Die Mehrheit des Volkes ist laut Umfragen für eine Liberalisierung. Die Mehrheit der Parlamentarier stimmte dagegen - und hat dadurch eine historische Chance vergeben.

Viele Abgeordnete hatten sich intensiv mit den Grenzfragen des assistierten Suizids auseinandergesetzt, aber vermutlich haben nur wenige persönliche Erfahrungen damit gemacht. Sie kennen das Dilemma nicht, in dem man sich befindet, wenn sterbenskranke Familienangehörige oder Freunde den Wunsch äußern, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Und man wünscht ihnen nicht, je in diese Situation zu geraten.

Was tun, wenn der eigene Bruder unheilbar krank ist und unter furchtbaren Schmerzen dem Ende entgegengeht? Wenn er sagt: "Ich will sterben."

Wir waren dagegen - und halfen trotzdem

Mein jüngerer Bruder Urban wurde von einem Mundbodenkarzinom regelrecht zerfressen. Er hatte alles versucht, alles durchgemacht, zwei Operationen, Chemotherapie, bioelektrische Bestrahlung. Doch der Krebs wucherte weiter. Erst verlor er den Geschmackssinn, allmählich auch die Sprache, schließlich wurde das Atmen immer schwerer. Urban sah einem qualvollen Erstickungstod entgegen. "Mein Körper ist ein Gefängnis", sagte er, "ich habe nur noch eine Freiheit, die Freiheit zu sterben." Und er beschloss, in die Schweiz zu fahren, zu den Sterbehelfern von Dignitas.

Wir waren ganz entschieden dagegen. Wir waren ratlos, verzweifelt, diskutierten nächtelang. Den Bruder in den Tod transportieren - undenkbar, völlig ausgeschlossen. Urban sagte: "Helft mir, wenn ihr mich liebt."

Wir Geschwister halfen ihm bei seiner letzten Reise. Er starb im November 2004 in Zürich. Sein letzter Wunsch war, dass seine Leidensgeschichte aufgeschrieben wird, damit sich auch in Deutschland endlich etwas ändert. Dass schwerstkranke Menschen nicht mehr gezwungen sind, diese entwürdigende Fahrt in den Tod auf sich zu nehmen. Dass sie sterben dürfen, wenn sie sterben wollen.

Es war unendlich schwer, die Entscheidung meines Bruders zu akzeptieren. Dennoch bin ich nicht zu einem bedingungslosen Befürworter der Sterbehilfe geworden. In ihrer kommerzialisierten Form könnte sie tatsächlich gefährliche Auswüchse annehmen. So besehen war der Beschluss des Bundestages durchaus richtig. Doch er war zugleich falsch, weil er die Beihilfe zum Freitod, die keinerlei Profitabsichten verfolgt, weiterhin kriminalisiert.

Jeder Fall muss individuell entschieden werden

Es ist kein Verbrechen, wenn Ärzte, Schwestern oder Pfleger Todkranken helfen, ihr Leiden zu beenden. Passiv oder indirekt wird das ja längst stillschweigend praktiziert: durch das Abschalten von Apparaturen, die nicht das Leben, sondern das Sterben verlängern. Oder durch terminale Sedierung, also durch die hohe Dosierung schmerzstillender Medikamente, die den Tod in Kauf nimmt.

Das geschieht in einer rechtlichen Grauzone. Auch für die aktive Sterbehilfe, bei der letale Mittel verabreicht werden, kann es keine institutionalisierten Regeln geben. Jedes Schicksal ist anders, jeder Fall muss individuell entschieden werden. Mancher Sterbenswillige braucht einfach nur Lebenshilfe. Aber wer todkrank ist und bei klarem Verstand den Freitod wählt, der darf nicht genötigt werden, seinen aussichtslosen Zustand bis zum Ende zu ertragen. Es gibt ein Recht auf Leben. Und es muss ein Recht aufs Sterben geben.

Dieses Recht gilt in Holland, Belgien, in der Schweiz und in manchen Bundesstaaten der USA. In Deutschland wird es den Bürgern weiterhin verwehrt.

Die evangelische und die katholische Kirche gaben nach der Abstimmung im Bundestag eine ökumenische Erklärung heraus und gratulierten den Abgeordneten zu ihrer Entscheidung. Nun sei für Sterbende die "solidarische Zuwendung bis zum letzten Atemzug" garantiert. Mein Bruder empfand gerade die Hilfe zum Tode als solidarische Zuwendung.

Bartholomäus Grill, 61, ist Afrika-Korrespondent des SPIEGEL. Er hat die letzte Reise seines Bruders in seinem Buch "Um uns die Toten" beschrieben.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten