Streit über "Das Amt" Historiker zerpflückt Bestseller

Der Bestseller "Das Amt" über das Auswärtige Amt und seine Rolle in der Nazi-Zeit hat einen erbitterten Streit ausgelöst. Mit Johannes Hürter vom renommierten Institut für Zeitgeschichte hat nun erstmals ein Kenner dieser Materie das Buch umfassend analysiert. Sein Urteil ist vernichtend.
Auswärtiges Amt in Berlin: Schwierigkeiten mit der Aufarbeitung der Vergangenheit

Auswärtiges Amt in Berlin: Schwierigkeiten mit der Aufarbeitung der Vergangenheit

Foto: dapd

"Ignoranz", "bodenlose Behauptungen", "Überzeichnungen, Vereinfachungen, Widersprüche", "schlichtweg falsche Befunde" - wenn Wissenschaftler über die Arbeit von Kollegen mit solchen Worten urteilen, zeichnet sich in der betulichen akademischen Welt ein Skandal ab, zumindest ein veritabler Streit. Die Kritik stammt von Johannes Hürter vom Münchener Institut für Zeitgeschichte und gilt dem Bestseller "Das Amt", den eine Historikerkommission vor einigen Monaten veröffentlicht hat. Das Buch fand mit seinen Thesen über das Auswärtige Amt und die Nazi-Zeit in Medien und Politik zunächst große Zustimmung. Das Außenamt habe an den Verbrechen des Hitler-Regimes an zentraler Stelle mitgewirkt, fast alle Diplomaten seien Täter gewesen.

Der Marburger Historiker Eckart Conze erklärte als Kommissionssprecher im

SPIEGEL (43/2010) sogar das gesamte Auswärtige Amt kurzerhand zur "verbrecherischen Organisation".  Geht es nach Hürter, ist das alles "nicht zu halten" und die "pauschalisierende und nivellierende Interpretation" der Kommission ein "erheblicher Rückschritt" hinter die Bemühungen der Forschung, ein differenziertes Bild vom Holocaust zu zeichnen. Hürter vergleicht "Das Amt" sogar mit der skandalumwitterten "Wehrmachtausstellung" des Hamburger Instituts für Sozialforschung von 1995, die aufgrund zahlreicher Faktenfehler und tendenziöser Behauptungen zurückgezogen wurde.

Joschka Fischers Historikerkommission - gescheitert

Der Verriss erscheint am kommenden Montag in der neuen Ausgabe der renommierten "Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte". Hürters Wort hat besonderes Gewicht, denn er ist ausgewiesener Experte für die Geschichte des "Dritten Reiches". Es ist zudem das erste Mal, dass sich ein Fachmann derart umfassend mit dem Bestseller auseinandersetzt.

Die jetzt so scharf kritisierte Kommission geht auf Joschka Fischer zurück, der 2005 als Außenminister neben Conze auch Norbert Frei aus Jena, den US-Historiker Peter Hayes und den Israeli Moshe Zimmermann beauftragt hatte, die Geschichte seines Ministeriums zu klären. Wie Hürter mit guten Gründen zeigt, dürfte dieses Unterfangen als rundherum gescheitert betrachtet werden.

Die Autoren des Bestsellers haben es dem Kritiker dabei erstaunlich leicht gemacht, denn oft liefern sie in dem 880-Seiten-Werk selbst die Passagen, mit denen sich zentrale Thesen widerlegen lassen. Etwa die Behauptung, die Nazis hätten für ihre Verbrechen im Auswärtigen Amt weitgehend auf das 1933 von ihnen angetroffene Personal zurückgegriffen. Hürter zitiert dagegen den an anderer Stelle formulierten und zutreffenden Befund, nationalsozialistische Seiteneinsteiger seien die "engsten Mitarbeiter" von Außenminister Joachim von Ribbentrop gewesen und hätten "zentrale Funktionen" besetzt.

Hürter weist daher auch den Vorwurf der Kommission zurück, fast alle Diplomaten seien Mittäter gewesen. Es gebe nun einmal Referate, Abteilungen und Außenposten im Amt, die "in erster Linie" mit Hitlers Gewaltpolitik befasst gewesen seien und in ihnen hätten "neue" parteinahe Diplomaten in den Schlüsselpositionen gesessen.

Hürters Analyse stellt das AA vor Probleme

Seitenweise listet Hürter "gewagt und unzureichend begründete Aussagen" auf, vor allem zum Ablauf des Holocaust und der Rolle des Amtes darin. Die Kommission hatte behauptet, eine Weisung von AA-Staatssekretär von Bülow vom 13. März 1933 habe "auf dem Weg zur 'Endlösung der Judenfrage' gewissermaßen den Anfang" markiert. In der Weisung geht es darum, statistisches Material zum "Vordringen der Juden" im öffentlichen Leben Deutschlands zu sammeln. Dabei war Hitler 1933 keineswegs entschlossen, Juden in Deutschland und Europa umzubringen.

Später schreiben Conze & Co., das Auswärtige Amt habe in der Person Ribbentrops bei einem Treffen mit Hitler am 17. September 1941 "die Initiative zur Lösung der "Judenfrage auf europäischer Ebene ergriffen". Das sei eine "große Überraschung für den Experten" spottet Hürter, denn über den genauen Inhalt der Gespräche zwischen Ribbentrop und Hitler "weiß man nichts". Davon abgesehen sei der Einfluss des Außenministers bekanntermaßen im Laufe des Krieges rapide zurückgegangen. Schon 1941 sei er an wesentlichen Entscheidungen nicht mehr beteiligt gewesen.

Ähnlich kritisch sieht Hürter die wohl spektakulärste These des Bestsellers, derzufolge das Auswärtige Amt ab 1940/41 "eine leitende Rolle in der Judenpolitik" zu spielen begonnen habe. Hürter bestreitet nicht, dass deutsche Diplomaten in Frankreich oder Ungarn an der Verfolgung der dortigen Juden maßgeblich beteiligt waren. Aber er verweist darauf, dass das Amt in der besetzten Sowjetunion und im sogenannten Generalgouvernement in Polen, wenig oder nichts zu sagen hatte, dort aber "die zentralen Schauplätze des Holocaust mit den weitaus meisten Opfern" lagen.

Hürters Kritik dürfte nicht nur die Autoren von "Das Amt" herausfordern, sondern auch das heutige Auswärtige Amt in Berlin vor Probleme stellen. Die öffentliche Zustimmung zu den scheinbar sensationellen Erkenntnissen der Kommission war im vergangenen Herbst so groß, dass Fischers Nachnachfolger Guido Westerwelle einer Arbeitsgruppe unter Leitung eines Staatssekretärs beauftragte, alle Broschüren und Internetseiten des Amtes und der Auslandsvertretungen, die sich mit der eigenen Geschichte im "Dritten Reich" beschäftigen, zu überprüfen.

Diese Aufgabe dürfte ab kommenden Montag deutlich schwieriger werden.

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