Streit um Gedenktag Historiker wenden sich gegen Vertriebenen-Charta

Stuttgart-Bad Cannstatt: Denkmal für die Charta der deutschen Heimatvertriebenen
Foto: dapdBerlin - Es gibt seit fünfzehn Jahren in Deutschland den Holocaust-Gedenktag. Am 27. Januar tritt das deutsche Parlament zu einer feierlichen Stunde zusammen und lässt Überlebende des Massenmordes zu Wort kommen.
Wenn es nach den Bundestagsfraktionen der schwarz-gelben Koalition geht, soll es im Sommer einen weiteren nationalen Gedenktag geben. Am 5. August könnte dann an die deutschen Vertriebenen erinnert werden.
Es ist ein heikler Vorstoß. Für manche ein Affront.
Schließlich geht es um ein umstrittenes Dokument der jüngeren deutschen Geschichte: Am 5. August 1950 war die "Charta der Heimatvertriebenen" unterschrieben und einen Tag später in Stuttgart-Bad Cannstatt verkündet worden.
Union und Liberale im Bundestag preisen das Papier als "wesentlichen Meilenstein auf dem Weg zur Integration und Aussöhnung" der Deutschen aus den früheren Ostgebieten. Für die Kritiker der Charta ist es allenfalls ein Dokument der Zeitgeschichte - behaftet mit vielen Lücken und Auslassungen.
Aufgeschreckt durch den Beschluss des Bundestags haben am Montag 68 führende deutsche, österreichische, schweizerische, polnische, tschechische, slowakische und weitere internationale Historiker und Wissenschaftler einen Aufruf veröffentlicht, der sich gegen das Vorhaben wendet. Der Antrag der Koalitionsfraktionen sei ein "falsches geschichtspolitisches Signal", heißt es in dem Aufruf, der SPIEGEL ONLINE vorliegt.
Nicht das Recht der deutschen Vertriebenen, an Flucht und Vertreibung zu erinnern, stellen die Autoren dabei in Frage. Doch lehnen sie einen Bezug zur Charta ab. Sie stelle für alle Überlebenden des Holocaust und jener Nationen, die vom nationalsozialistischen Deutschland überfallen worden seien, "kein Dokument der Versöhnung dar", das Wort "Versöhnung" tauche dort nicht auf.
"Vielmehr wird darin gänzlich deplaziert auf "Rache und Vergeltung" verzichtet, als gäbe es einen solchen Anspruch", heißt es in dem Aufruf. Und: Es gebe in der Charta "kein Wort zu den Ursachen des Krieges, zu den nationalsozialistischen Massenverbrechen, zum Mord an Juden, Polen, Roma und Sinti, sowjetischen Kriegsgefangenen und anderen verfolgten Gruppen, kein Wort zum Generalplan Ost, der die Vertreibung und Vernichtung von Millionen "slawischer Untermenschen" nach dem "Endsieg" vorsah", heißt es weiter.
Den Aufruf haben unter anderem aus Deutschland Wolfgang Benz, Eckart Conze, Norbert Frei, Jürgen Kocka, Heinrich August Winkler, Klaus J. Bade, aus Polen Jerzy Holzer, Wlodzimierz Borodziej, aus der Slowakei Dusan Kovac, aus der Tschechischen Republik Kristina Kaiserova unterschrieben. Zudem: Sechs Wissenschaftler sind Mitglieder im wissenschaftlichen Beraterkreis der vom Bund getragenen Stiftung "Flucht, Vertreibung und Versöhnung."
Lebhafte Debatte im Bundestag
Bereits die Debatte vergangene Woche im Bundestag war lebhaft gewesen. Die Opposition, allen voran Bundestagsvize-Präsident Wolfgang Thierse (SPD), selbst Kind von Vertriebenen aus Breslau, sprachen sich vehement dagegen aus, den 5. August zum Gedenktag zu machen. Die vor fast 61 Jahren verabschiedete Charta enthalte Formulierungen, die aus heutiger Sicht kritisch zu bewerten seien. Auch Linke und Grüne lehnen das Vorhaben ab.
Der Vorstoß scheint auch wahltaktisch motiviert.
Kein Zufall war es wohl, dass Baden-Württembergs Ministerpräsident Stefan Mappus kurz zuvor auf dem Jahresempfang der Landesregierung für die Vertriebenenverbände seine bereits in früheren Jahren erhobene Forderung wiederholt hatte, den 5. August zum nationalen Gendenktag zu machen. Es ist offenbar der Versuch, die konservative Klientel unter den Vertriebenen an die CDU zu binden - schließlich geht es beim Urnengang am 27. März im Ländle um jede Stimme für die amtierende schwarz-gelbe Koalition.
Auch die FDP im Bundestag zog diesmal mit. Ihr Berliner Abgeordneter Lars Lindemann verteidigte das Vorhaben mit dem Argument, Deutschland habe sich intensiv mit seiner Geschichte auseinandergesetzt und sei inzwischen ein "geachtetes Mitglied der europäischen Gemeinschaft". Deshalb dürften die Deutschen heute auch die "Erfahrung der Vertreibung aufnehmen und ihr einen Platz geben".
Dabei hatte noch im vergangenen Frühjahr Guido Westerwelle (FDP) andere Töne beim sensiblen Thema der Vertreibung angeschlagen. Als Vizekanzler und Außenminister legte er sich quer, als es um die Besetzung eines Sitzes im Stiftungsrats des Vertriebenenzentrums durch die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, , ging. Nach monatelangen Hickhack verzichtete die CDU-Politikerin schließlich. Der FDP-Chef hatte stets die deutsch-polnischen Beziehungen für seinen Widerstand gegen Steinbach hervorgehoben.
Beim Vorstoß für einen Gedenktag für die Vertriebenen hat sich Schwarz-Gelb allerdings eine Hintertür offen gehalten: In dem vergangene Woche verabschiedeten Antrag wird die Bundesregierung aufgefordert, den 5. August als möglichen nationalen Gedenktag für die Opfer der Vertreibung zu "prüfen".
Regierungssprecher Steffen Seibert erklärte gegenüber SPIEGEL ONLINE, die Bundesregierung werde den Antrag der Koalitionsfraktionen selbstverständlich prüfen. "Aber sie bekennt sich zu einer eher zurückhaltenden Position gegenüber Forderungen nach neuen nationalen Gedenktagen." Seibert wies darauf hin, dass auch am Volkstrauertag und am Tag der Heimat bereits an Flucht und Vertreibung erinnert werde - und er verwies darauf, dass gerade die jetzige Bundesregierung sich für das Zentrum gegen Vertreibungen engagiere.