Stimmenfang - Der Politik-Podcast Das Jahrzehnt des Wutbürgers
"Es war ein ganz stilles Land", sagt SPIEGEL-Autor Dirk Kurbjuweit über Deutschland im Herbst 2010. "Es war das merkelsche Biedermeier in voller Entfaltung. Es gab kaum noch Konflikte und es herrschte eine große Ruhe." Doch dann begannen die Proteste gegen Stuttgart 21. Und Kurbjuweit schreibt im Oktober 2010 im SPIEGEL erstmals vom "Wutbürger". Im Dezember 2010 macht die Gesellschaft für deutsche Sprache den Begriff zum "Wort des Jahres", seitdem prägt er die politische Debatte.
Im aktuellen SPIEGEL blickt Kurbjuweit auf ein Jahrzehnt des Wutbürgers zurück. Und in der neuen Podcast-Folge sprechen wir mit ihm darüber, wie die Wut im Volk das Land verändert hat, wie die Politik darauf reagieren sollte und warum zu wenig Streit in einer Demokratie die Wut anfacht.
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[00:00:04] Yasemin Yüksel Willkommen zu Stimmenfang, dem Politik-Podcast vom SPIEGEL. Ich bin Yasemin Yüksel. Die Corona-Pandemie hat ja aktuell ein Ventil geöffnet für die Wut von einigen auf die Politik der Bundesregierung.
[00:00:29] Anti-Corona-Demo Was die da oben machen ist Katastrophe! Weg mit dieser BRD!
[00:00:29] Yasemin Yüksel Vor genau zehn Jahren, im Oktober 2010, hat mein Kollege Dirk Kurbjuweit im SPIEGEL zum ersten Mal vom "Wutbürger" geschrieben und den Begriff mit seinem Text überhaupt in die Welt gesetzt.
[00:00:41] Essay "Der Wutbürger", SPIEGEL Oktober 2010 "Eine neue Gestalt macht sich wichtig in der deutschen Gesellschaft: Das ist der Wutbürger. Er bricht mit der bürgerlichen Tradition, dass zur politischen Mitte auch eine innere Mitte gehört, also Gelassenheit, Contenance. Der Wutbürger buht, schreit, hasst. Er ist konservativ, wohlhabend und nicht mehr jung. Früher war er staatstragend, jetzt ist er zutiefst empört über die Politiker."
[00:01:07] Yasemin Yüksel Damals ging es bei den wütenden Protesten um Stuttgart 21. Heute geht es um Corona, um Geflüchtete, die Euro-Rettungspolitik oder die vermeintlich notwendige Rettung des Abendlandes. Die Anlässe ändern sich also - aber die Wut bleibt. Und darum fragen wir In dieser Folge: Hat Deutschland, hat die deutsche Politik inzwischen eigentlich einen Weg gefunden, mit dieser Wut umzugehen? Darüber darf ich heute sprechen, passenderweise, mit Dirk Kurbjuweit, also dem Kollegen, der den Begriff "Wutbürger" erstmals benutzt hat. Hallo Dirk, ich freue mich, dass du da bist.
[00:01:39] Dirk Kurbjuweit Hallo, freue mich auch.
[00:01:41] Yasemin Yüksel Dirk, lass' uns mal zu dem Ursprung der Geschichte zurückgehen, also zu dem Moment, in dem du erstmals dieses Wort "Wutbürger" in einem deiner Texte im Oktober 2010 benutzt hast. Was war Deutschland damals für ein Land? Was hat die Menschen, einige Menschen, damals so wütend gemacht?
[00:01:59] Dirk Kurbjuweit Erst mal war es ja ein ganz stilles Land. Es war sozusagen das Merkelsche Biedermeier in voller Entfaltung. Es gab kaum noch Konflikte, und es herrschte doch eine große Ruhe. Und das war ja auch ihr Ziel, letzten Endes die Leute zu besänftigen, zu beruhigen.
[00:02:13] Angela Merkel Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, ich wünsche Ihnen und Ihren Familien für das neue Jahr 2010 Gesundheit und Zufriedenheit.
[00:02:22] Dirk Kurbjuweit Und so gingen wir in dieses Jahr eigentlich mit einer Stimmung, es wird nicht viel passieren.
[00:02:26] Angela Merkel Bereits zum fünften Mal darf ich Ihnen diesen Wunsch an einem Silvesterabend übermitteln.
[00:02:31] Dirk Kurbjuweit Wir sind so halb eingeschläfert, wunschgemäß – nach dem Wunsch unserer Bundeskanzlerin. Und dann wurden diese Proteste in Stuttgart gegen den Bahnhof, gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 immer heftiger.
[00:02:52] Protestrufe gegen Stuttgart 21 Oben bleiben! Oben bleiben!
[00:02:52] Dirk Kurbjuweit Immer lauter und immer wütender.
[00:02:55] Nachrichtensendung Mit Wasserwerfern gegen Widersacher: Am vergangenen Donnerstag verlor die Landesregierung von Baden-Württemberg die Nerven und blies zum Angriff auf den Protest gegen ihr Prestigeprojekt Stuttgart 21. Doch der Großeinsatz gerät zum Fiasko.
[00:03:11] Dirk Kurbjuweit Und dann bin ich da mal hingefahren und hab mir das angeschaut und war sehr erstaunt von dem, was ich da gesehen habe. Ich kenne ja Protest auch aus meinem eigenen Leben. Also in den 1070er Jahren war ich ja auch Teil der Anti-Atomkraft-Bewegung und in den 1980ern auch Friedensbewegung und so, und war bei diesen Demos dabei. Aber wir waren junge Menschen und es waren weniger Alte dabei. In Stuttgart habe ich sehr viele alte gesehen.
[00:03:36] Redner bei Demo gegen Stuttgart 21 Wenn die Politik sagt, sie will die Bürger mitnehmen, dann habe ich das jetzt verstanden. Denn wenn die Politik die Bürger mitnimmt, dann sehen die danach sehr mitgenommen aus.
[00:03:52] Yasemin Yüksel Beschreibt doch mal, was hast du da vor Ort gesehen? Was ist dir da aufgefallen?
[00:03:58] Dirk Kurbjuweit Naja, erst erstmal stand ich ziemlich weit hinten am Anfang. Ich habe mich dem langsam genähert, und dann dachte ich, irgendwas ist so anders als das, was du kennst von solchen Protestveranstaltungen. Und dann wurde mir klar: Es sind die grauen Haare. Ich gucke in ein Meer von grauen Haaren, und das war früher sicher nicht so. Und dann dachte ich, das ist schon mal anders. Und dann die Wut, die ich in den Gesichtern gesehen habe, als ich mich dann weiter vorgearbeitet hatte, da dachte ich auch: Was ist eigentlich passiert, dass ein Bahnhof – in meinen Augen ja damals eine gute Sache, Schienenverkehr, umweltfreundlich – so viel Wut entfachen kann? Und da fing ich an, darüber nachzudenken, was könnte passiert sein? Und dann Auslöser für den Essay war dann aber auch, dass ich etwas gelesen habe, damals in der Süddeutschen Zeitung. Thilo Sarrazin hatte gerade sein Buch veröffentlicht mit Thesen, die doch auch zum Teil fremdenfeindlich wirkten und zum Teil sogar antisemitisch, obwohl er das ja irgendwann bestritten hat.
[00:05:02] Nachrichtensendung Auf einer Veranstaltung des Literaturhauses München referiert er vor dem Bildungsbürgertum. Der Saal ist brechend voll, und voll auf seiner Seite.
[00:05:13] Thilo Sarrazin Wenn wir Deutschen so weitermachen, dann leben hier eben in hundert Jahren Zuwanderer, und in diesem Sinne schafft sich Deutschland ab.
[00:05:24] Dirk Kurbjuweit Und da war eine Veranstaltung und da wurde er kritisch befragt, und da hatte die Süddeutsche eben berichtet, wie wütend bürgerliche Zuhörer auf diese kritischen Fragen an Sarrazin reagiert hatten.
[00:05:35] Nachrichtensendung Der gestrige Abend sollte sachlich bleiben. Doch die beiden renommierten Sachbuchautoren, die mit Sarrazin diskutieren, haben es schwer beim Publikum [im Hintergrund Buhrufe und Pfiffe aus dem Publikum].
[00:05:49] Dirk Kurbjuweit Und da dachte ich, okay, das muss ich mal irgendwie zusammendenken und so ist dieser Essay entstanden.
[00:05:54] Yasemin Yüksel Was hat dich dann letztendlich dazu animiert, genau diesen Begriff zu wählen, "den Wutbürger"?
[00:06:02] Dirk Kurbjuweit Das war ehrlich gesagt so, dass er erst gar nicht da drin stand in dem Text. Also, es ging um die Wut, das war schon das Thema, aber er stand nicht da drin. Und ich muss eine Überschrift finden, als der Text fertig war. Und dann hab ich da lange überlegt, und dann schreibt man ja so was auf und verwirft, und irgendwann stand da: Wutbürger. Und dann dachte ich, ja, wow, das ist eigentlich ein gutes Wort, indem ich – nach meinem Geschmack – irgendwie gut zusammengefasst hatte, was da drinsteht. Und so bin ich auf dieses Wort gekommen.
[00:06:31] Yasemin Yüksel Und das Wort hat in Deutschland Geschichte gemacht. Übrigens, ich hab's noch mal nachgeschaut: Im Dezember 2010, also wenige Monate nach dem Erscheinen deines Essays, hat die Deutsche Gesellschaft für Sprache den Wutbürger, also diese Vokabel, auch zum Wort des Jahres gemacht. Die Tagesschau hat damals darüber berichtet.
[00:06:47] Tagesschausendung im Dezember 2010 Wutbürger stehe besonders prägnant für die Empörung in der Bevölkerung, wenn politische Entscheidungen über ihren Kopf hinweg getroffen würden. Auf Platz zwei landete der Begriff Stuttgart 21. Platz drei belegt, dass Sarrazin-Gen.
[00:07:02] Yasemin Yüksel Dirk, ich will dem Verlauf unseres Gesprächs nicht vorgreifen, aber ich werde dich definitiv nachher noch fragen, ob du eigentlich heute diesen Begriff so noch mal wählen würdest. Ich... Ja, du schaust... [lacht]
[00:07:12] Dirk Kurbjuweit Ich fange schon mal an darüber nachzudenken [lacht].
[00:07:17] Yasemin Yüksel Was war der Gegenstand dieser Wut? Wogegen hat sich die Wut dieser Menschen, die du dort beobachtet hast, im Herbst 2010 gerichtet?
[00:07:26] Dirk Kurbjuweit Ich glaube, dass es schon verschieden war, an beiden Orten. In Stuttgart, würde ich sagen, war es Ohnmacht; dass die Leute das Gefühl hatten, sie waren nicht einbezogen in die Entscheidung für dieses Bahnprojekt. Das konnte ich zum Teil auch verstehen. Nicht den Ausdruck dieser Wutausbrüche – das konnte ich nicht gut verstehen. Ich glaube, dass es bei diesen Protesten bei der Sarrazin-Veranstaltung um etwas anderes ging. Da öffnete sich ein kleines Fenster zu dem, was wir heute oder in den Jahren danach erlebt haben. Da ging es schon, glaube ich, um Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie in Teilen des Bürgertums. Das hatte sich damals in München, glaube ich, schon gezeigt, und das war ein Vorbote von dem, was kommen wird.
[00:08:11] Yasemin Yüksel Wir spannen den Bogen ins Hier und Jetzt: Dein Text "Der Wutbürger" aus dem Oktober 2010 jährt sich jetzt, zehn Jahre später, und du hast jetzt im aktuellen SPIEGEL noch mal geschrieben. Du schreibst jetzt über das Jahrzehnt des Wutbürgers. Warum, würdest du sagen, konnte dieser Begriff überhaupt Karriere machen in Deutschland? Warum ist diese Wut nicht mehr verschwunden?
[00:08:35] Dirk Kurbjuweit Sie ist nicht nur nicht verschwunden, sondern sie ist immer weitergewachsen. Das waren verschiedene Entwicklungen. Einerseits ging es da um den Euro, um Europa. Und da gab es ja in der Bevölkerung oder in Teilen der Bevölkerung Widerstand gegen Hilfsmaßnahmen der Bundesregierung. Und damals hat sich aus diesem Grunde auch die AfD gegründet. Und die war von Anfang an eine Partei, die die Wut aufnahm – gegen den Euro und gegen europäische Solidarität aus Deutschland, das war das eine. Das andere war, dass sich Fremdenfeindlichkeit immer deutlicher gezeigt hat und die Leute auch gemerkt haben, dass sie damit durchkommen, dass es möglich ist; dass sie Gleichgesinnte finden und dass sie auf den Plätzen demonstrieren können und diese Dinge alle schreien, sagen können, dass sie ihre Wut rauslassen können.
[00:09:27] Pegida-Veranstaltung Wir sind das Volk, wir sind das Volk!
[00:09:27] Zum vierten Mal sind wir hier zusammengekommen, um gemeinsam für unsere Ziele einzustehen und unserer Regierung zu zeigen, dass es nicht so weitergeht; dass dem Radikalismus und dem religiösen Fanatismus ein Ende bereitet werden muss.
[00:09:42] Dirk Kurbjuweit Und der Ausdruck dafür war Pegida in Dresden, die sich dort damals gegründet haben, 2014. Und dann kam es ja zu großen Demonstrationen – das war islamophob und fremdenfeindlich. Ich glaube generell, das Gefühl, dass dem immer zugrunde liegt, ist am Ende die Ohnmacht. Und Ohnmacht macht halt wütend. Und das kann ich in gewisser Weise nachvollziehen. Aber es sind doch grauenhafte Irrtümer, wenn sich das in Richtung Fremdenfeindlichkeit kanalisiert.
[00:10:12] Yasemin Yüksel Was würdest du denn sagen, wie beeinflusst die momentane, die aktuelle Corona-Situation, diese Wut? Wie wirkt sich Corona gerade auf die Wütenden aus?
[00:10:23] Dirk Kurbjuweit Ja, wir sehen da wieder ähnliche Effekte: dass Entscheidungen getroffen werden, die jetzt auch tatsächlich mal tief in das Leben der Menschen eingreifen – beim sogenannten Lockdown, aber auch bei der Maskenpflicht und ähnlichem. Da hat wieder ein Teil, ein kleiner Teil der Bevölkerung, das Gefühl: "Das wird über unsere Köpfe hinweg entschieden. Wir sind nicht daran beteiligt. Es ist zu unserem Schaden." Da ist dann neuerlich die Wut ausgebrochen, wir haben das hier in Berlin erlebt.
[00:10:51] Nachrichtensendung Punkt 19 Uhr durchbrechen Demonstranten die Absperrungen vor dem Reichstag und versuchen, das Gebäude beziehungsweise eine Treppe zu stürmen. Gefeiert wird als stünde der Endsieg über die Demokratie kurz bevor.
[00:11:08] Dirk Kurbjuweit Dieser kleine Sturm auf den Reichstag ist natürlich Ausdruck eines Gefühls von Ohnmacht und Wut. Wobei ich immer noch sagen würde: Diese Ohnmacht, ich selbst empfinde die nicht. Ich finde in einer repräsentativen Demokratie, in der ich meine Stimme abgebe, in der ich wähle, in der ich mich ja auch äußern kann – und tatsächlich mehr denn je. Die Bürger können sich ja mehr äußern, finden viel mehr Resonanz als vorher über das Internet. Und deshalb kann ich das nur zu Teilen nachvollziehen. Aber insgesamt nicht.
[00:11:42] Yasemin Yüksel Ist es nicht aber unterm Strich auch so, dass – möglicherweise wirst du jetzt gleich sagen: "Ja, Yasemin, da müssen wir aber eine Unterscheidung machen" – Streit beziehungsweise Wut unserer Demokratie auch guttun beziehungsweise wir alle wissen das. Wir als Erwachsene haben uns das ein bisschen abtrainiert. Wir müssen nun mal eine Dreijährige anschauen: Wut gehört zum Leben.
[00:12:04] Dirk Kurbjuweit Ja, Yasemin, aber da müssen wir tatsächlich eine Unterscheidung machen [lacht]. Es ist ja geradezu so, dass die Demokratie ja das System ist, dass den Streit braucht, das auf Streit angelegt ist, in dem die Freiheit sich zu äußern, dort gilt und wertgeschätzt wird. Und dann bilden sich natürlich verschiedene Gruppen in einer Gesellschaft. Alles ist umstritten, es gibt ganz wenige Themen, bei denen sich alle einig sind. Und da man es in der Demokratie aus austrägt bis zu einer Entscheidung, muss halt gestritten werden. Das Gute an der Demokratie, sie braucht den Streit. Und andererseits – und das ist in gewisser Weise paradox – fürchtet die Demokratie eben deshalb nichts so sehr wie den wütenden Streit. Weil wenn ständig gestritten wird, ist man ja darauf angewiesen, dass es trotzdem friedlich bleibt und dass der Streit eben nicht eskaliert und er eskaliert eben über die Wut. Und in dieser etwas schwierigen Balance befindet sich die Demokratie: Streit ja, aber Streit wird auch relativ schnell zur Wut, Wut aber nein. So, und da wirken halt so Kräfte miteinander und gegeneinander, die eine Demokratie relativ prekär machen in dieser Hinsicht und die Wut deshalb, finde ich, zur größten Herausforderung für demokratische Staaten macht.
[00:13:21] Yasemin Yüksel Könnte es also darum sein, dass – nun ist die aktuelle Bundeskanzlerin ja bekanntermaßen schon einige Jahre im Amt – ihre Regierungen durch ein über die Maßen ausgeprägtes Harmoniebedürfnis möglicherweise dazu beigetragen haben, dass wir zu wenig gestritten haben?
[00:13:39] Dirk Kurbjuweit Ja, das würde ich schon sagen. Merkel hat ja diesen Besänftigungsstil gepflegt. Es war immer ihre größte Angst, dass die Leute sich aufregen. Sie wollte immer Ruhe haben und das hat das Land aber auch so ein bisschen unterzuckert. Und man war eben so gedämpft und verkam letzten Endes so ein bisschen in dieser Unterzuckerung. Ich glaube, dass sich in solchen Zuständen das eben auch mal breitmachen muss. Merkel hat natürlich die Konsenssuche extrem weit getrieben in ihren Großen Koalitionen und dadurch, dass sie niemandem wehtun wollte mit ihren Maßnahmen, kam vielleicht bei manchen auch so das Gefühl auf, ja gar nicht in einer richtigen Demokratie zu leben, weil einfach zu wenig gestritten wird. Und zum Gefühl der Demokratie gehört eben tatsächlich auch der Streit, und dieses Gefühl hatten wir nicht mehr so richtig, und daraus haben dann manche eben den Schluss gezogen, sozusagen, wir leben in einer Diktatur. Was wir ja jetzt wieder haben, diesen Vorwurf sozusagen "die Corona-Diktatur". Ich halte das für Blödsinn, wir leben nicht in einer Diktatur. Aber ich weiß, woher dieses Gefühl kommt, dass die Leute, oder manche Leute, muss man immer sagen, den Streit vermissen, die Auseinandersetzung.
[00:14:55] Yasemin Yüksel Über dieses Gefühl der Ohnmacht, das hast du jetzt mehrfach betont, da will ich auf jeden Fall noch einmal ansetzen. Ich würde aber vorweg noch einmal fragen wollen, wie hat diese Wut der letzten circa zehn Jahre Deutschland verändert?
[00:15:08] Dirk Kurbjuweit Ja, dramatisch. Also, ich bin ja manchmal wirklich immer noch erstaunt und entsetzt, was wir gerade in den letzten Jahren erlebt haben. Die AfD ist ja eine Partei, die diese Wut ausdrückt und die es wegen dieser Wut gibt.
[00:15:23] Alexander Gauland (AfD) Wir werden sie jagen! Wir werden Frau Merkel oder wen auch immer jagen! Und wir werden uns unser Land und unser Volk zurückholen!
[00:15:36] Dirk Kurbjuweit Die AfD hat ja unfassbar viel verändert in dem Diskurs, also wie im Bundestag geredet wird, welche Meinungen möglich sind. Auch dass in dem Flügel der AfD wirklich offen Rechtsextreme beteiligt sind, dass in dieser Weise argumentiert wird, das ist ja wirklich unfassbar. Wenn ich mich an Erfurt erinnere, die Abstimmung dort, dass ein FDP-Politiker eine Wahl annimmt mit den Stimmen der AfD. Das hätte ich ja wirklich vor zehn Jahren, als ich diesen Essay geschrieben habe, mir niemals ausmalen können, dass Wut so weit führt in diesem Land! Und insofern hat es wirklich sehr, sehr viel verändert.
[00:16:16] Yasemin Yüksel Dramatische Veränderungen im Land beschreibst du also. Heißt das, dass die Politik in den vergangenen zirka zehn Jahren, seit du erstmals diese Wut beschrieben hast, bislang kein geeignetes Mittel gefunden hat, um mit diesem Gefühl – und das ist ja definitiv eine extrem starke Emotion – der Ohnmacht bei einigen in der Bevölkerung umzugehen, darauf zu reagieren?
[00:16:40] Dirk Kurbjuweit Einerseits ist das so. Andererseits – und ich fange mit dem andererseits mal an – darf sie es auch nicht zu sehr. Wenn die Bundesregierung oder in dem Fall auch Angela Merkel mit ihrer Partei, wenn die sich entscheiden für eine offene Flüchtlingspolitik, dann ist es in einer Demokratie auch möglich, dass mal gegen einen Teil der Bevölkerung regiert wird und dass man Dinge durchsetzt, mit denen nicht alle einverstanden sind. Das gehört zum Wesen der Demokratie, dass am Ende die Mehrheit entscheidet. Angela Merkel hat ja auch in der Wahl danach, nach 2017, etwas mühsam zwar, aber doch auch eine Mehrheit zustande bekommen für eine weitere Regierung. Also drückt ihre Politik, die Flüchtlingspolitik, schon auch eine Mehrheitsmeinung aus. Und es ist ihr gutes Recht, das so zu machen. Ich finde es trotzdem ungeschickt von ihr und politisch nicht klug, dass sie den Dialog mit der Bevölkerung so selten sucht und dass sie so wenig redet. Wir haben ja jetzt in den letzten Monaten mal überraschenderweise eine viel sprechende Kanzlerin erlebt. In den ersten Wochen der Pandemie hat sie ja die Bevölkerung oft angesprochen. Und das fand ich gut, das fand ich richtig.
[00:17:53] Angela Merkel Ich wende mich heute auf diesem ungewöhnlichen Weg an sie, weil ich ihnen sagen will, was mich als Bundeskanzlerin und alle meine Kollegen in der Bundesregierung in dieser Situation leitet. Das gehört zu einer offenen Demokratie, dass wir die politischen Entscheidungen auch transparent machen und erläutern, dass wir unser Handeln möglichst gut begründen und kommunizieren, damit es nachvollziehbar wird.
[00:18:19] Dirk Kurbjuweit Vorher hat sie das ja sehr, sehr selten gemacht, und sie hat ja den Dialog mit den Menschen, auch in Ostdeutschland, finde ich, viel zu selten gesucht. Und das würde ich ihr vorwerfen – nicht ihre Politik in der Sache, sprich die Flüchtlingspolitik, sondern sie hat es versäumt, große Anstrengungen zu unternehmen, eigene Anstrengung, um die Bürger, die skeptisch sind, dafür zu gewinnen.
[00:18:42] Yasemin Yüksel Zu wenig Dialog, gerade in Ostdeutschland, sagst du. Im Wahlkampf 2017 da hat die Kanzlerin dann ja die Wut gerade bei ihren Auftritten in den neuen Bundesländern unmittelbar zu spüren bekommen. Wenn sie dann in der Regel vor Ort mit Buhrufen oder "Merkel muss weg" empfangen wurde.
[00:19:01] Angela Merkel Meine Damen und Herren meinen, manche glauben, dass man die Probleme der Menschen in Deutschland mit Schreien bewältigen kann und lösen kann. Ich glaube das nicht. Ich glaube, die Mehrheit auf diesem Platz glaubt das auch nicht.
[00:19:20] Yasemin Yüksel Wie findest du, dass Merkel hier reagiert? Ist das ein geeigneter Weg, auf diese Wut, auf dieses Geschrei zu reagieren?
[00:19:27] Dirk Kurbjuweit Ich finde, als erstes immer: Die Politik und auch eine Bundeskanzlerin muss sich stellen und muss dahin, auch wenn es weh tut. Und da finde ich, hatte es Schröder auch richtig gemacht. Damals bei Hartz IV gab es ja auch enorme Proteste und auch eine gewisse Wut bei manchen Menschen.
[00:19:45] Damaliger Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) Wir werden, meine sehr verehrten Damen und Herren, Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fordern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen.
[00:19:55] Dirk Kurbjuweit Und er ist da rausgegangen, er hat sich dieser Wut gestellt bei Reden auf öffentlichen Plätzen. Und da wurde ja auch alles Mögliche geworfen und geschrien und er stand immer da. Und das finde ich, hat Merkel einfach zu wenig gemacht. Das stimmt, im Wahlkampf dann hat sie es gemacht – da muss es ja mehr oder weniger auch. Ich hätte es vorher von ihr erwartet. Ich fand zum Beispiel nach den Ausschreitungen, diesen wirklich schlimmen Ausschreitungen in Chemnitz – wann war sie denn da? Wann ist sie da hingefahren? Wer da hingefahren ist, war die Familienministerin Frau Giffey und hat da einen sehr eindrucksvollen Auftritt hingelegt. Das kann sie auch machen, wunderbar. Aber das ist die Aufgabe der Bundeskanzlerin. Wenn so etwas in diesem Land passiert, in Deutschland, dann muss sie dahin. Und leider kann sie sich da aber nicht zu durchringen.
[00:20:46] Yasemin Yüksel Was bei mir ankommt, Dirk, ist, dass du definitiv plädieren würdest dafür, Politik muss zuhören, darf sich nicht abwenden, muss sich gegebenenfalls, auch wenn es unangenehm ist, stellen. Ich habe mir Auftritte, jetzt nochmal ganz aktuelle, des Bundesgesundheitsministers Jens Spahn angeschaut. Der war jetzt im Spätsommer im Rahmen des kommunalen Wahlkampfs in Nordrhein-Westfalen, und er kommt ja aus Nordrhein-Westfalen, da vor Ort bei einigen Terminen. Ein Beispiel ist ein Rede-Auftritt in der Stadt Bottrop, und da wird er ebenfalls mit Buhrufen und noch viel Ärgerem als nur einem harmlosen Buh empfangen. Und er reagiert so:
[00:21:23] Bundesgesundheitsminister Jens Spahn Und wissen Sie, was auch immer... was auch immer... was auch immer der Grund ist, warum Sie so wütend sind – es wird ja irgendeinen Grund geben, warum Sie so wütend sind – frage ich mich halt, ob dieser Grund ein so guter sein kann, dass wir so miteinander umgehen. Das frage ich mich halt am Ende! Ich bin sehr dafür, dass man redet....
[00:21:39] Yasemin Yüksel Das mal nur als ein Beispiel. Und damit will ich übrigens überhaupt nicht unterstellen, dass die Politik des Bundesgesundheitsministers unfehlbar wäre. Da kann man ganz viel dran kritisieren. Wenn wir beide jetzt in der Pflege tätig werden, würden uns vermutlich aus dem Stand heraus x Gründe einfallen. Aber nochmal dieser Punkt, man muss zuhören und sich stellen: Wenn man in so eine Situation als Politiker reinkommt – wie weit kommt man da dann tatsächlich mit zuhören und sich stellen?
[00:22:14] Dirk Kurbjuweit Wahrscheinlich ist es oft sinnlos, weil manche Leute gar nicht diskutieren wollen, die wollen nur schreien. Was ich aber unheimlich gut an diesem Auftritt finde. Und das reicht ja dann schon, dass er sich da hinstellt und sagt: Ich stehe hier, wir können reden, und quasi den Ball zurückspielt. Jetzt müssten die eben mit Argumenten kommen und ihnen stellen. Das tun sie aber nicht, sie wollen versuchen, ihn niederzubrüllen. Aber er ist da, er ist bereit, und ich finde, dass dieses Signal das Wichtigste ist, dass die Politiker zeigen, wir sind bereit. Wir sind nicht, wie ihr denkt, die abgehobene, entrückte Elite da in Berlin, sondern wir sind hier bei euch. Und wenn ihr wollt, reden wir jetzt miteinander. Und dann zeigt sich eben leider hin und wieder, wie dort, dass manche Leute gar nicht reden wollen. Aber dann hat die Politik eben auch ihr Bestes getan, würde ich sagen.
[00:23:03] Yasemin Yüksel Weil sie immerhin Gesprächsbereitschaft gezeigt hat. Wir haben den Bogen gespannt: Wir haben 2010 angefangen, über die Situation damals gesprochen, die Proteste, die von dem Bahnhofsbau in Stuttgart ausgegangen sind, sind im Hier und Jetzt angekommen, in der Corona-Situation. Diese Pandemie wird hoffentlich, wenn ich mir wünschen dürfte, bald Geschichte sein. Wird die Wut aber bleiben, oder geht die dann weg?
[00:23:28] Dirk Kurbjuweit Ich glaube, dass sie bleibt. Sie schlummert jetzt auch ein bisschen, weil, so wie vorher die Frage der AfD und Flüchtlingspolitik vieles andere verdeckt hat, ist es ja jetzt auch so, dass Probleme oder Wut in anderen Beziehungen einfach eher verdeckt wird durch die aktuellen Probleme. Ich glaube aber, dass das im Prinzip bleibt. Das hat auch mit dem Internet zu tun, dass es einfach möglich ist, Wut stärker zu äußern, Wutgruppen zu bilden. Und das wird uns immer weiter begleiten. Die Frage ist nur, wie tief es in die Gesellschaft vordringt.
[00:24:06] Yasemin Yüksel Dann nur noch meine letzte Frage, Dirk. Ich habe es vorhin angedeutet: Du hast vor zehn Jahren den Begriff "Wutbürger" gewählt. Würdest du ihn heute wieder so wählen?
[00:24:17] Dirk Kurbjuweit Ja, ich habe ja jetzt die ganze Zeit still darüber nachgedacht. Wie bei so vielen Antworten heute kann ich da nur irgendwie ambivalent antworten. Tatsächlich finde ich, dass das Wort einerseits ganz gut ist, weil es etwas sehr kurz beschreibt. Und ich lese es ja sehr oft und gerade natürlich in Überschriften. Weil man liest das Wort und weiß sofort, was gemeint ist, hat ein Bild vor Augen. Und das ist ja oft auch ganz gut, um sich zu verständigen, dass man über gemeinsame Begriffe verfügt. Das finde ich gut. Ich kann aber jetzt nicht übersehen, dass dieses Wort auch in gewisser Weise Teil des Problems ist, weil das, was es da bezeichnet ist, da natürlich auch irgendwo eine gewisse Abwertung drin liegt, in dem Wort. Ich finde es jetzt nicht so schlimm wie "Covidiot" oder so – der Idiot ist ja noch was anderes als der Wutbürger – und gleichwohl... Also, einerseits denke ich, ja, das passt. Und andererseits denke ich, ich selbst würde es wahrscheinlich in einer Debatte oder Diskussion mit Bürgern nicht verwenden.
[00:25:33] Yasemin Yüksel Vielen Dank für das Gespräch, für deine Perspektiven, deine Einsichten. Bis bald!
[00:25:37] Dirk Kurbjuweit Ja, danke auch, bis bald!
[00:25:43] Yasemin Yüksel Das war Stimmenfang, der Politik-Podcast vom SPIEGEL. Zum Schluss habe ich heute noch einen Hinweis in eigener Sache für Sie: Viele von Ihnen schreiben uns ja, dass Ihnen unser Podcast gefällt. Und wenn Sie unsere Art Journalismus zu machen, überzeugt, laden wir sie ein, unser Angebot SPIEGEL Plus zu testen. Mit SPIEGEL Plus erhalten Sie Zugang zu allen Artikeln auf spiegel.de und Sie bekommen außerdem die digitale Ausgabe des gedruckten SPIEGEL jeden Freitag schon ab 13 Uhr, bevor das Heft am Samstag am Kiosk liegt. Mehr Informationen zu SPIEGEL Plus finden Sie unter www.spiegel.de/abo. Feedback und Themenvorschläge zu unserem Stimmenfang-Podcast können Sie uns wie immer per Mail schicken an stimmenfang@spiegel.de. Oder Sie hinterlassen uns eine Mailbox-Nachricht oder schicken eine WhatsApp an die Nummer 040 380 80 400. Wir freuen uns, von Ihnen zu hören. Die nächste Folge gibt's wie immer kommenden Donnerstag auf spiegel.de, auf Spotify, bei Apple Podcasts und in allen üblichen Podcast Apps. Ich bin Yasemin Yüksel und bei der Produktion wurde ich diese Woche unterstützt von Philipp Fackler, Charlotte Meyer-Hamme, Johannes Kückens, Matthias Streitz und natürlich Sandra Sperber. Unsere Stimmenfang-Musik kommt von Davide Russo.
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