"Stuttgart 21"-Räumung Bürgerkrieg im Schlossgarten

Bislang war der Bürgerprotest gegen "Stuttgart 21" friedlich - jetzt ist die Lage eskaliert: Bei der Räumung des Baugeländes hat die Polizei Tränengas und Wasserwerfer eingesetzt, viele Demonstranten wurden verletzt. Beobachter machen Regierungschef Mappus für den Gewaltausbruch verantwortlich.
Von Josef-Otto Freudenreich
"Stuttgart 21"-Räumung: Bürgerkrieg im Schlossgarten

"Stuttgart 21"-Räumung: Bürgerkrieg im Schlossgarten

Foto: Uwe Anspach/ dpa

Es regnet Tränengas. Kinder, Schüler, alte Frauen und Männer fallen übereinander, werden hochgehoben und dorthin geschleppt, wo der scharfe Strahl der Wasserwerfer nicht mehr hinreicht. Manche Gesichter sind blutüberströmt, die Augen brennen höllisch, der Atem wird knapp. Szenen wie in Wackersdorf, sagen ältere Semester, die über einschlägige Demo-Erfahrungen verfügen. Aber es ist nicht Wackersdorf, es ist der Stuttgarter Schlossgarten, die gute Stube der Schwaben, in der sie sonntags mit ihren Kindern spielen.

"Stuttgart 21"

Es geht um . Die Polizei hatte am Donnerstagmorgen begonnen, das im Rahmen der Bauarbeiten für die Grundwasser-Aufbereitungsanlage vorgesehene Gelände zu räumen. Bei dem Einsatz gegen die Gegner des umstrittenen Projekts wurden nach Angaben eines Rettungsassistenten fast 400 Menschen leicht verletzt. 320 von ihnen seien mit Augenverletzungen durch Pfeffersprays in einem provisorisch eingerichteten Camp für die Erstversorgung behandelt worden. Die ersten 50 Opfer, so hieß es, seien Schüler gewesen, die an einer angemeldeten Demonstration teilnahmen.

Am Abend begannen Polizisten damit, Aktivisten von den Bäumen zu holen. Spezialkräfte setzten einen Kran mit Hebebühne ein. Außerdem versuchten Beamte vier Aktivisten, die sich um einen Baum herum angekettet hatten, loszueisen. Noch immer protestierten Tausende gegen die Räumung von Teilen des Parks für die Baumfällarbeiten. Bis zum Samstag sollen im Schlossgarten 25 Bäume für das umstrittene Projekt gefällt werden.

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"Stuttgart 21": Wasserwerfer gegen Demonstranten

Foto: dapd

Peter Conradi

, der Alt-Sozi und einer der Wortführer der "Stuttgart 21"-Gegner, ist fassungslos. "Die Polizei fährt hier ein, als müsste sie den Castor schützen", sagt er. In der Tat: Es sind Hundertschaften, die aus der ganzen Republik zusammengezogen wurden. In voller Kampfmontur und mit Reizgassprays bewaffnet, die sie gezielt auf die Demonstranten richten. Den Rest erledigen drei Wasserwerfer. Stündlich kommen mehr Protestler. Es ist, als müssten die Menschen mit Gewalt aus ihrem Park vertrieben werden, den sie mit den Mitteln verteidigen, die sie haben. Sie kauern vor den Wasserwerfern, skandieren, solange sie noch können, ihr "Wir sind friedlich, ihr nicht", um dann zur Seite wegzuwanken.

Stefan Mappus

Eine völlig durchnässte alte Frau hat sich in die hinteren Reihen retten können, mit dem Rest ihres Schirms, dem Griff und einem gekrümmten Stab. Alles andere hat der Wasserwerfer weggefegt. Die 71-jährige Rentnerin demonstriert zum ersten Mal in ihrem Leben und ist, gelinde formuliert, fassungslos und verzweifelt. Sie schreit Werner Wölfle, den Chef der Stuttgarter Grünen, an, er solle sich vor die Wasserwerfer legen, er sei doch ein Politiker. Aber Wölfle ist schon durchnässt und die falsche Adresse. So ruhig er noch kann, versucht er der Frau zu erklären, dass er derjenige sei, der an vorderster Front gegen "Stuttgart 21" kämpfe. Dass es Ministerpräsident sei, der "Rambo", der seine Maske haben fallen lassen. Der Regierungschef sei für diese Eskalation verantwortlich, die es so in Stuttgart noch nie gegeben habe. Aber für die Rentnerin sind diese Unterschiede nicht mehr wichtig, für sie gehören alle Politiker zum "Lügenpack".

Unter den Demonstranten findet sich der Krimi-Autor Wolfgang Schorlau. Er habe so etwas noch nie erlebt, sagt er, wie die Polizei gegen Schüler vorgehe: "Ein Beamter hat einer etwa 15-Jährigen mit voller Wucht ins Gesicht geschlagen." Er selbst habe einen Schlag auf den Hinterkopf kassiert - und nun heftige Kopfschmerzen. All dies habe er in Stuttgart nicht für möglich gehalten, sagt der Schriftsteller: "Wir sind ja hier nicht in Berlin."

"Was sollen unsere Kinder vom Staat halten, der sie von der Straße spritzt?"

Seit Stunden steht auch Prälat Michael Brock unter den Platanen. Der katholische Pfarrer hatte es vor wenigen Tagen noch geschafft, die streitenden Parteien an einen Tisch zu bekommen. Jetzt hat er das Ergebnis. Hilflos, ratlos, zornig, so beschreibt er seine Gemütslage angesichts der aufgefahrenen Staatsgewalt, die seine Vermittlungsversuche endgültig zunichte macht. Er hat beim Polizeipräsidenten angerufen, und darum gebeten, das martialische Aufgebot zurückziehen.

Die Antwort war kühl: Er solle dafür sorgen, dass die Blockierer das Gelände räumen. Er hat im Büro von Oberbürgermeister Wolfgang Schuster angeläutet und den Christdemokraten zum Kommen aufgefordert. Der sei nicht da, hieß es lapidar. "Was sollen da die Kinder denken", sagt der 49-jährige Geistliche, "was sollen sie von unserem Rechtsstaat halten, der sie von der Straße spritzt?"

Die Schüler, 13-, 14-, 15-Jährige, waren morgens um zehn zu einem Protestzug zusammengekommen und hatten dann, so Brock, eine besondere Form des Gemeinschaftsunterrichts erlebt. Der Pfarrer weiß, dass in diesem Moment seine Mission gescheitert ist. Was aus diesem Hexenkessel wird, vermag in diesem Augenblick niemand zu prophezeien, auch der Geistliche nicht.

Ministerpräsident Mappus amüsierte sich auf dem Bauerntag

So wird auch sein Appell an Mappus, der Landesvater aller Schwaben und Badener zu sein, der Gegner und der Befürworter, wirkungslos verpuffen, weil sich der Maschinist der Macht offenbar entschieden hat, die Provokation zu erzwingen. Darüber sind sich die Oppositionspolitiker im Schlossgarten alle einig. Mappus werde versuchen, so sagen Conradi und Wölfle, die Eskalation weiterzutreiben, um endlich das zu bekommen, was bisher fehlte: die Gewalt. Damit - dieses Kalkül unterstellen sie dem Ministerpräsidenten - wäre die Kraft der Demonstranten geschwächt, ihre Glaubwürdigkeit zerstört. Nach dem Motto: Wir haben es schon immer gewusst, hier sind "Berufsdemonstranten" am Werk.

Zu ihnen wird Mappus wohl auch die frühere Ver.di-Landesvorsitzende Sybille Stamm zählen. Die 65-jährige kommt mit blauen Flecken aus einem Pulk, nachdem sie von Polizisten die Böschung hinuntergeworfen und getreten worden ist. Sie ist eine der Verletzten, die in einem Sanitätszelt behandelt werden - sie haben Blessuren aufgrund von Tränengas, Wasserwerfern, Tritten. "Das ist hier Bürgerkrieg", sagt sie.

Mappus selbst hatte am Donnerstag andere Pläne: Er amüsierte sich auf dem Bauerntag in Stuttgart und trank entspannt mit den Landwirten Bier.

Mit Material von dpa
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