Oberbürgermeisterwahl in Stuttgart Grünes Versagen

Am Sonntag wird in Stuttgart der neue Oberbürgermeister gewählt. Fest steht schon jetzt: Die Grünen haben diese bisher grüne Stadt verloren. Wie konnte das passieren?
Veronika Kienzle wollte Oberbürgermeisterin von Stuttgart werden – doch sie hat aufgegeben

Veronika Kienzle wollte Oberbürgermeisterin von Stuttgart werden – doch sie hat aufgegeben

Foto: Arnulf Hettrich / imago images/Arnulf Hettrich

Vor acht Jahren wurde in Deutschland der erste grüne Oberbürgermeister einer Landeshauptstadt gewählt. Der Gewählte hieß Fritz Kuhn, die Stadt Stuttgart. Und wiederum anderthalb Jahre zuvor war der Grüne Winfried Kretschmann zum Ministerpräsidenten Baden-Württembergs gewählt worden.

Das Land und seine Hauptstadt – grüne Musterbeispiele. In Baden-Württemberg ist die Partei längst, was sie im Bund schon bald werden will, nämlich wählbar für die von Parteichef Robert Habeck vielzitierte "Breite der Gesellschaft".

Doch ausgerechnet jetzt, mitten im bundesweiten Grünen-Hoch vor dem Superwahljahr 2021, beginnt den Grünen die Macht in ihrem Musterländle zu entgleiten.

Grüne weit hinter der CDU

Wenn an diesem Sonntag die Stuttgarterinnen und Stuttgarter aufgerufen sind, ihr neues Stadtoberhaupt zu wählen, dann steht – nach sieben Jahren grüner Regentschaft in Stuttgart – gar keine Grüne mehr auf dem Wahlzettel.

Denn im ersten Wahlgang Anfang November landeten die Grünen mit ihrer Spitzenkandidatin Veronika Kienzle bei nur rund 17 Prozent der Stimmen. Weit abgeschlagen hinter dem CDU-Kandidaten Frank Nopper, der fast 32 Prozent holte, nur kurz vor Marian Schreier, dem 30-jährigen SPD-Bürgermeister aus dem 5000-Einwohner-Städtchen Tengen.

Schreier trat zudem ohne die Unterstützung seiner Partei an und kam doch auf 15 Prozent. Und dann ist da noch Hannes Rockenbauch vom parteifreien Bündnis SÖS (»Stuttgart Ökologisch Sozial«), er erhielt 14 Prozent.

Für die Grünen im Südwesten ist das ein beschämendes Ergebnis. Wer den Anspruch hat, die CDU zu schlagen, der sollte nicht ganze 14 Prozentpunkte hinter ihr landen.

Die Geschichte der verlorenen Oberbürgermeisterwahl ist auch eine Geschichte über ein Versagen der Grünen. Während sie in Nordrhein-Westfalen kommunalpolitisch erste große Erfolge feiern konnten, baut die Partei in Baden-Württemberg ab.

Noch immer gilt dort das Amt des Stuttgarter Oberbürgermeisters als das zweitwichtigste im Land, nach dem des Ministerpräsidenten. Und im nächsten März schon sind in Baden-Württemberg Landtagswahlen. Ein Sieg in Stuttgart wäre eine schöne Rampe gewesen.

Was ist geschehen?

Die Grünen haben viel falsch gemacht bei der Stuttgart-Wahl. Den ersten großen Fehler machten sie im Januar, als Kuhn bekannt gab, nicht noch einmal antreten zu wollen. Die Partei war überrascht und überrumpelt.

Habeck und Kretschmann hatten beide damit gerechnet, dass Kuhn weitermachen würde. Gedanken über mögliche Nachfolgekandidaten hat sich offenbar niemand gemacht.

Dann folgte eine wilde Kandidatenjagd. Der Kreisverband holte sich eine Absage nach der anderen ab.

Cem Özdemir und die Grünen-Landtagspräsidentin Muhterem Aras wurden für den Posten ins Spiel gebracht, beide lehnten ab.

Eine eilig berufene »Findungskommission« sollte es richten. Am Ende standen einige Namen auf der Liste, die Grünen entschieden sich für Veronika Kienzle. Eine bis dato unbekannte Frau, die Bezirksvorsteherin des Stuttgarter Stadtteils Mitte ist.

Es wirkte, als sei nur sie übrig geblieben, als wolle die Partei sie eigentlich nicht. Aber es habe sich eben niemand sonst gefunden.

Schlechte Voraussetzungen für einen Wahlkampf. Ob Veronika Kienzle die richtige Kandidatin war, darüber lässt sich streiten. Bei den Grünen möchte auch hinter vorgehaltener Hand niemand von einer falschen Wahl sprechen, vielmehr sei Kienzle Opfer der Umstände geworden.

Verantwortlich gemacht wird vor allem Kuhn, der seine Partei vor vollendete Tatsachen gestellt habe. Doch auch der Wahlkampf selbst lief nicht gut. Die Grünen hatten zu wenig Geld eingeplant, wegen der Coronakrise konnten viele geplante Veranstaltungen nicht stattfinden, die Kandidatin machte Fehler.

Kienzle lachte

Kienzle hat eine Eurythmie-Ausbildung gemacht. Eurythmie ist ein Tanz, der an Waldorf-Schulen gelehrt wird. Ob sie ihr Wahlprogramm auch tanzen könne, wollte ein Reporter der »Stuttgarter Zeitung« von ihr wissen. Kienzle lachte und sagte: »Ja, das könnte ich.«

Selbst im anthroposophisch geprägten Stuttgart wirkte die Antwort albern. Kienzle sagte von sich selbst, sie habe studiert, aber sie war nicht an einer klassischen Universität oder Fachhochschule, sondern einer Berufsfachschule.

In der Berliner Zentrale wuchsen die Sorgen, je näher der Wahltermin rückte. Parteichefin Annalena Baerbock sollte Kienzle noch unterstützen, wegen Corona natürlich virtuell, aber es war zu spät. Kienzle verlor die Wahl deutlich. »Das Ergebnis war leider deutlich unter dem, was wir uns erhofft haben«, so Özdemir zum SPIEGEL.

Kienzle erklärte noch am Wahlabend, sie wolle im zweiten Wahlgang erneut antreten. Das irritierte die anderen progressiven Bewerber Schreier und Rockenbauch.

Kienzles nächster Fehler.

Vor den Verhandlungen mit Schreier und Rockenbauch musste sie nach SPIEGEL-Informationen zurückrudern. Schließlich erklärte allein sie, nicht antreten zu wollen. Die besten Chancen, doch noch gegen den CDU-Mann Nopper zu gewinnen, hat inzwischen Schreier.

Glaube an Kretschmann ist ungebrochen

Stuttgart ist eine grün-schwarze Stadt, konservativ, aber mit ökologischem Bewusstsein. So wie die Südwest-Grünen. Doch gute Ausgangsbedingungen reichen nicht, um Wahlen zu gewinnen.

Rezzo Schlauch, früher Fraktionschef der Grünen im Bundestag und grünes Urgestein, kritisierte in der »Stuttgarter Zeitung«: Die Partei in Baden-Württemberg sei »satt und selbstzufrieden« geworden. Er vermisse die »Professionalität der Parteigremien«.

Stuttgart ist nicht die erste Hochburg, die den Grünen verloren geht. Vor zwei Jahren konnte Dieter Salomon das Oberbürgermeisteramt in Freiburg nicht halten.

Trotzdem glauben viele Grüne unerschütterlich daran, dass Kretschmann die Landtagswahlen im März gewinnen wird. Als seien die Grünen und Baden-Württemberg wie Bayern und die CSU. Die Wahl in Stuttgart aber zeigt, dass sie genau das nicht sind.

Führende Grüne in Baden-Württemberg hoffen, dass die Oberbürgermeisterwahl Warnung genug an die Partei ist, nicht im trägen Habitus der Macht zu verharren. Denn die Landtagswahl müssen die Grünen gewinnen.

Auch von dem Ergebnis wird abhängen, ob sie sich trauen, im Bund einen Kanzlerkandidaten oder eine Kanzlerkandidatin aufzustellen.

Doch selbst wenn Kretschmann sein Amt verteidigen kann, steht schon bald die Frage nach der Nachfolgerin oder dem Nachfolger an. Die Möglichkeiten sind überschaubar.

In Berlin gibt es nur einen, dem sie das Amt zutrauen. Das ist Cem Özdemir. Doch ob er will, ist offen. Will er nicht, könnte es schwer werden für die Grünen im Ländle.  

Nachwuchsprobleme gibt's auch in Berlin

Nicht nur in Baden-Württemberg zeichnen sich Erneuerungsprobleme ab. In Berlin haben die Grünen Bettina Jarasch als Spitzenkandidatin für das Amt der Regierenden Bürgermeisterin aufgestellt.

Außerhalb der politisch interessierten Stadtgesellschaft kennt sie kaum jemand, sie wird wahrscheinlich gegen Familienministerin Franziska Giffey (SPD) und Klaus Lederer (Linke) antreten müssen. Beide sind charismatisch, beliebt, bürgernah. Sie zu schlagen, wird schwer, selbst mit dem Momentum, das die Partei derzeit hat.

Die Bundesgrünen können daraus lernen, wie man es nicht macht. Und sich rechtzeitig um die Baerbock-Habeck-Nachfolge im Vorsitz kümmern, im nächsten Jahr finden bei den Grünen wieder Personalwahlen statt. Gut möglich, dass es an der Spitze einen Wechsel gibt – vorausgesetzt, die Partei schafft es tatsächlich in die nächste Bundesregierung.

Anmerkung: In einer früheren Version hieß es, Kuhn sei vor sieben Jahren gewählt worden. Tatsächlich war es vor acht Jahren. Wir haben die Stelle korrigiert. Außerdem haben wir präzisiert, dass Özdemir und Aras nicht direkt für eine Kandidatur angefragt, sondern ins Spiel gebracht wurden.

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