
Die Lage: Superwahljahr 2021 Reißt die CSU die Fünfprozenthürde?

Liebe Leserin, lieber Leser,
heute befassen wir uns mit dem Abwärtstrend der Union, der Ablehnung eines Linksbündnisses durch die Deutschen und der Kandidatur einer Berliner Legende.
Runter kommen sie immer
»Rolltreppe abwärts« heißt eines dieser sozialkritischen Jugendbücher, die in den Neunzigerjahren jedenfalls in Nordrhein-Westfalen Pflichtlektüre in der Schule waren und die einem braven Mädchen aus Siegburg ein bisschen Angst einjagen konnten. In dem Buch gerät der Teenager Jochen, ein Scheidungskind natürlich, auf die schiefe Bahn, klaut erst Bonbons im Kaufhaus, dann ein teures Elektronikgerät, dann folgen unweigerlich Schlägereien in der Schule und schließlich die Einweisung ins Heim, wo ein bösartiger Erzieher Jochen plagt.
Nein, auf der Rolltreppe abwärts willst du wirklich nicht landen im Leben, das habe ich verinnerlicht, insofern regt sich bei mir ein ganz leises Mitgefühl mit CDU und CSU dieser Tage, die in den Umfragen unaufhaltsam unter die 20-Prozent-Marke zu rollen scheinen.
Das muss besonders die CSU frustrieren, die doch einen »Kandidaten der Herzen« aufbieten wollte. Glaubt man den Gerüchten aus der Partei, soll für diesen sogar schon ein Wahlplakat vorbereitet gewesen sein: Markus Söder, mit entschlossenem Blick und wehendem Sakko auf die Kamera zumarschierend, darunter der Slogan: »Bereit für Deutschland.« Schluchzen in der CSU-Landesleitung. DAS wäre was gewesen! Rolltreppe aufwärts! Ein Hinweis an CSU-Whistleblower: Der SPIEGEL würde das Motiv noch zeigen, schon aus Chronistenpflicht.
Stattdessen radelt Söder jetzt bescheiden durch einen rein bayerischen CSU-Bundestagswahlspot , derweil sackt seine Partei ab, die jüngste Bayern-Umfrage im Auftrag der »Augsburger Allgemeinen« sieht sie bei 34,5 Prozent – es sollen acht Punkte weniger sein als noch vor einem Monat.
Das führt zu dem interessanten Nebeneffekt, dass die CSU, falls es so weitergeht, erstmals in ihrer Geschichte bei einer Bundestagswahl die Fünfprozenthürde reißen könnte. Als Ein-Bundesland-Partei müsste sie je nach Wahlbeteiligung und der Gesamtzahl der gültigen Stimmen bundesweit und in Bayern mindestens auf etwa 32 Prozent im Freistaat kommen, um die Hürde im Bund zu überwinden. Blöd, dass die CSU sich bisher schwerpunktmäßig mit Obergrenzen (für Geflüchtete) befasst hat, denn diese Untergrenze rückt nun gefährlich nahe. Man stelle sich vor, die CSU als Partei würde es nicht in den Bundestag schaffen – gut, dass Franz Josef Strauß das nicht mehr erleben müsste.
Zugegeben, es ist natürlich ein fiktives Szenario: Niemand muss befürchten, nach der Wahl künftig ohne die segensreichen Beiträge der CSU-Landesgruppe im Bundestag auskommen zu müssen. Da die Partei noch immer gute Chancen hat, alle 46 Wahlkreise in Bayern zu gewinnen, wird sie selbstverständlich auch weiterhin im Parlament vertreten sein. Doch es wäre eine hässliche Symbolik, formal an dieser Hürde zu scheitern, und wenn es eine Partei gibt, die verliebt ist in politische Symbolik, dann die CSU.
Nun mögen Sie sagen, liebe Leserin, lieber Leser: Mir doch egal, was aus der CSU wird. Doch die Kombination aus einem miesen Zweitstimmenergebnis und einer Menge Direktmandate hätte auch für uns Steuerzahlerinnen und Steuerzahler einen sehr unguten Nebeneffekt: Der Bundestag würde vermutlich weiter aufgebläht.
Denn die Verzerrung von Erst- und Zweitstimmenergebnis erzeugt Überhangmandate, die nach dem deutschen Wahlrecht (dessen grundlegende Reform unter anderem auch am Widerstand der CSU gescheitert ist...) auszugleichen sind. Und wenn der Überhang bei einer Regionalpartei anfällt, muss der Ausgleich noch üppiger ausfallen als etwa bei der SPD oder FDP, die bundesweit antreten. Diese Rechnung versteht man sogar mit Abitur aus Nordrhein-Westfalen. Wie formulierte es der »Tagesspiegel« so schön: »Die CSU ist der Problembär im bestehenden Wahlsystem.«
Was gibt es Neues in der Republik 21?
Die hektischen Evakuierungsmissionen des Westens aus Afghanistan sind beendet – aber was wird aus den Zurückgelassenen? Das Thema beschäftigt uns diese Woche auch in unserem Projekt Republik 21 zum Superwahljahr. Im Podcast »Stimmenfang« geht es ab Donnerstagmorgen um die Situation in Kabul und die deutsche und europäische Migrationspolitik. Wir wissen, wie sehr das Thema unsere Leserinnen und Leser berührt. Unsere Artikel auf SPIEGEL.de zu Afghanistan werden von Ihnen in enormer Zahl angeklickt.
Deshalb ist es uns wichtig, auch im Podcast für Sie die Frage aufzubereiten, welche Verantwortung der Westen hat für jene, die die Herrschaft der Taliban und den Terror des IS fürchten. Ist die oft beschworene »Hilfe vor Ort« die Lösung – oder braucht es ein groß angelegtes Resettlement-Programm? Antworten suchen meine Kollegen Marius Mestermann und Jelena Berner.
Heute Abend um 20 Uhr wird außerdem Katarina Barley, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, zu Gast im SPIEGEL-Hauptstadtbüro sein. Der Zeitpunkt könnte kaum günstiger sein: Wir werden bei der digitalen Liveveranstaltung über den Zustand der EU und die Rolle Deutschlands in dem Verbund sprechen.
Warum scheitert Europa so kläglich in der Flüchtlingspolitik? Was kann und was muss Europa mit Blick auf die Krise in Afghanistan tun? Wie kann eine bessere Zusammenarbeit bei der Bewältigung der Coronapandemie und beim Klimaschutz gelingen?
Zu der Veranstaltung können sich bis Mittwochabend (18 Uhr) nur Abonnentinnen und Abonnenten anmelden, die auch über eine Forumsfunktion Fragen an Barley einbringen können. Wer dieses Mal nicht dabei sein kann: Wir werden wie immer über die wichtigsten Aussagen von unserem Gast auf SPIEGEL.de berichten.
Was die Umfragen sagen
Die gute Nachricht für die Union: Die Abwärtsspirale dreht sich in unserer neuesten Umfrage vorerst nicht weiter. Die schlechte: Echte Erholung ist nicht in Sicht – und der Höhenflug der SPD hält an.
Mit 25 Prozent liegen die Sozialdemokraten in der SPIEGEL-Sonntagsfrage, erhoben vom Meinungsforschungsinstitut Civey, knapp vor CDU und CSU mit 23 Prozent. Die Grünen können keinen Boden gutmachen, auch bei den anderen Parteien tut sich nicht wirklich etwas.
Das erste TV-Triell zwischen Annalena Baerbock, Armin Laschet und Olaf Scholz hat die Stimmungslage zunächst nicht gravierend verändert. Befeuert hat der Auftritt der Kandidaten aber sehr wohl die Debatte über ein mögliches Linksbündnis aus SPD, Grünen und Linkspartei. Weil Scholz und Baerbock diese Machtoption nicht explizit ausschließen, warnen Laschet und die Unionsprominenz nur zu gern vor der roten Gefahr.
Dass sie damit einen Nerv im Wahlvolk treffen könnten, zeigt unsere SPIEGEL-Umfrage. Die Mehrheit der Deutschen wünscht sich vom Kandidaten Scholz eine Ansage, dass er sich von der Linken nicht zum Kanzler wählen lassen würde.
Wenig überraschend: Vor allem die Unionsstammklientel (auf deren Mobilisierung Laschet mit seiner Rote-Socken-Kampagne vor allem zielt) ist der Meinung, dass die Sozialdemokraten schon vor der Wahl klar Nein zu R2G sagen sollten. Die potenziellen Koalitionspartner sehen das deutlich entspannter.
Eine detailliertere Auswertung der Umfragezahlen lesen Sie im Laufe des Tages auf SPIEGEL.de.
Der Wahlkreis der Woche: #84
Gregor Gysi gehört zu jenen Linkenpolitikern, die eine rot-rot-grüne Koalition trotz fundamentaler Differenzen in der Außenpolitik für möglich halten. Gysi bewirbt sich bei der Bundestagswahl einmal mehr um das Direktmandat im Bundestagswahlkreis Berlin-Treptow-Köpenick.
»Mein Job ist noch nicht erledigt« – mit diesen Worten hat der immerhin schon 73-Jährige seine erneute Kandidatur begründet. Er meint damit nicht etwa das Ziel einer linken Regierungsbeteiligung, sondern die Gleichstellung von Ost und West, die noch immer nicht vollendet sei.
Das Linken-Urgestein hat prominente Konkurrenz: Die CDU schickt eine andere Ostlegende ins Rennen – die fünffache Eisschnelllauf-Olympiasiegerin Claudia Pechstein. Neben dem Wahlkampf bereitet sich die 49-Jährige derzeit auf die Olympischen Winterspiele in Peking vor, wo sie im Februar 2022 ihre sportliche Karriere beenden will.
Ob die Rekord-Olympionikin anschließend im Bundestag politisch durchstarten kann, ist mehr als ungewiss. Platz sechs auf der Berliner Landesliste dürfte angesichts der mauen Umfragewerte für die CDU kaum für den Einzug ins Parlament reichen.
Im Wahlkreis könnte ihr der Promi-Faktor ein paar Pünktchen bringen, der Sieg aber wird Gysi nicht zu nehmen sein. Seit 2005 hat er im Bezirk im Südosten der Hauptstadt stets klar gewonnen, das dürfte diesmal nicht anders sein.
Dass Gysi nach vier weiteren Jahren im Bundestag schließlich den Vollzug bei der Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West vermelden wird, ist indes nicht zu erwarten.
Die Storys der Woche
Diese politisch relevanten Geschichten aus unserem Hauptstadtbüro möchte ich Ihnen besonders empfehlen:
Die AfD in der Krise – Die Rechtspartei hoffte, vom Afghanistan-Thema zu profitieren. Welche strategischen Fehler sie machte, hören Sie im Podcast.
Hoffen auf die Busbrücke – Wie Außenminister Heiko Maas auf einer Blitzmission Verbündete für die Rettung der Ortskräfte suchte.
Zahlenchaos beim Impfen – »Eine systematische Datenerhebung ist politisch nicht gewollt«, sagt der Ökonom Gabriel Felbermayr im Interview
Herzlich
Ihre Melanie Amann
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