Linkenkandidatin Hennig-Wellsow "Zum Regieren braucht es realistische und radikale linke Einstellungen"

Susanne Hennig-Wellsow will neue Linkenchefin werden und die Partei fit machen für eine Regierung. Im Interview lobt sie Olaf Scholz - und nennt Bedingungen für Rot-Rot-Grün.
Ein Interview von Kevin Hagen und Timo Lehmann
Kandidatin für den Linkenvorsitz: Susanne Hennig-Wellsow

Kandidatin für den Linkenvorsitz: Susanne Hennig-Wellsow

Foto: Michael Reichel / picture alliance/dpa

2021 dürfte für die Linke ein entscheidendes Jahr werden. In Thüringen wollen die Genossen ihren Ministerpräsidenten Bodo Ramelow verteidigen, in Berlin in der Regierung bleiben. Vor allem aber teilen zumindest große Teile der Partei ein Ziel: Sie wollen endlich auch im Bund an die Macht - in einer Koalition mit SPD und Grünen.

Doch ist die Partei tatsächlich bereit dafür? In wenigen Wochen treffen sich die Genossen zum Parteitag in Erfurt. Dann steht die Wahl einer neuen Linkenspitze an. Die bisherigen Amtsinhaber Katja Kipping und Bernd Riexinger machen nicht weiter. Wer folgt auf die beiden?

Topfavoritin für den Parteivorsitz ist Susanne Hennig-Wellsow. Die Thüringer Landes- und Fraktionschefin gilt als zentrale Figur hinter Ramelows Regierung in Erfurt. Am Freitag erklärte sie ihre Kandidatur. Hennig-Wellsow strebt eine Doppelspitze mit der hessischen Fraktionschefin Janine Wissler an, die Regierungsbeteiligungen skeptisch sieht.

Wie passt das zusammen? Welche Pläne hat sie mit den Linken? Im SPIEGEL-Interview erklärt Hennig-Wellsow, was sie von Rufen nach einem Nato-Austritt hält, warum Parlamentarismuskritiker unter den Genossen keine Rolle für Rot-Rot-Grün spielen sollen - und wo die Grenzen für ein Mitte-links-Bündnis liegen.

SPIEGEL: Frau Hennig-Wellsow, Sie wollen Linkenchefin werden. Warum tun Sie sich das an?

Susanne Hennig-Wellsow: Das ist keine Entscheidung, die man mal eben so trifft. Aber irgendwann war mir klar: Ich habe darauf richtig Bock. Wir brauchen jetzt einen Aufbruch, wir müssen Mut machen. Und ich habe in Thüringen gezeigt, dass ich das kann.

SPIEGEL: Die scheidenden Vorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger haben acht Jahre voller Streit, Machtkämpfe und parteiinterner Kleinkriege hinter sich. Macht Ihnen das keine Sorge?

Hennig-Wellsow: Natürlich ist das kein Kuschelposten. Ich habe in Thüringen gelernt, Konflikte zu lösen. Dafür braucht man zwar einen harten Panzer. Aber ich habe davor keine Angst.

Foto: Martin Schutt / picture alliance/dpa

Susanne Hennig-Wellsow, 42, ist Landes- und Fraktionschefin der Linken in Thüringen. Die studierte Pädagogin sitzt dort seit 2004 im Landtag. 2013 übernahm sie die Führung des Landesverbandes, ein Jahr später auch der Fraktion. Hennig-Wellsow zählt zu den entscheidenden Akteuren hinter der rot-rot-grünen Koalition unter dem linken Ministerpräsidenten Bodo Ramelow. Bundesweit bekannt wurde sie, als sie im Frühjahr 2020 dem mit AfD-Stimmen vorübergehend zum Thüringer Regierungschef gekürten FDP-Politiker Thomas Kemmerich einen Blumenstrauß vor die Füße warf.

SPIEGEL: Was wollen Sie besser machen als Kipping und Riexinger?

Hennig-Wellsow:  Die haben das über viele Jahre ziemlich gut gemacht. Für mich ist wichtig, dass wir viel miteinander sprechen und ausgleichend wirken. Es muss einen Weg geben, dass wir in Partei und Fraktion gemeinsam miteinander arbeiten können. Wir sollten nicht nur die Welt erklären, sondern Lösungen haben. Als neue Vorsitzende hätten wir nicht viel Zeit, die Linke wieder stark zu machen. Jetzt gibt es ein Fenster, im kommenden Jahr ist Bundestagswahl. Wir wollen die Union an der Regierung ablösen. Und ich glaube, dass Janine Wissler und ich die Partei wieder zusammenführen können.

SPIEGEL: Dabei ticken Sie doch ziemlich unterschiedlich. Sie sind Regierungslinke, eine Architektin von Rot-Rot-Grün in Thüringen, Wissler sieht Regierungsbeteiligungen skeptisch. Wie passt das zusammen?

Hennig-Wellsow: Wir ergänzen uns. Ich bin der festen Überzeugung, dass eine Linke in Bewegung und eine Linke in Regierung zusammengehören. Ich trete an, damit wir auf eine Regierung vorbereitet sind, wenn sich die Gelegenheit dafür ergibt.

Hennig-Wellsows Wunschpartnerin: die hessische Fraktionschefin Janine Wissler

Hennig-Wellsows Wunschpartnerin: die hessische Fraktionschefin Janine Wissler

Foto:

Boris Roessler/ DPA

SPIEGEL: Entschuldigung, aber ist Ihre Partei überhaupt regierungs- und koalitionsfähig?

Hennig-Wellsow: Auf jeden Fall.

SPIEGEL: Gerade erst beharrten Dutzende Linke in einem Papier auf Nato-Austritt und Bundeswehrabzug, darunter die halbe Bundestagsfraktion. Wenn Sie solche Maximalforderungen zur Bedingung machen, ist Rot-Rot-Grün erledigt.

Hennig-Wellsow: Nein, gar nicht. Perspektivisch wollen wir ein kooperatives europäisches Sicherheitssystem, auch mit Russland. Darüber kann man mit SPD und Grünen sprechen. Auch bei klassischen Uno-Blauhelmeinsätzen, ohne Kampfauftrag, würden wir uns nicht grundsätzlich verweigern. Aber Rüstungsexporte lehnen wir ab und Kampfeinsätzen der Bundeswehr werden wir nicht zustimmen, diese Linie überschreiten wir nicht, auch nicht in einer Koalition.

SPIEGEL: Das sind immer noch hohe Hürden für ein Regierungsbündnis.

Hennig-Wellsow: Es geht um unseren Markenkern. Eine Regierung aus SPD, Grünen und Linken braucht den Mut, Dinge zu verändern. Die Wählerinnen und Wähler müssen doch sehen, dass wir einen neuen Weg gehen.

SPIEGEL: Wäre Olaf Scholz der richtige Kanzler für solch ein Projekt?

Hennig-Wellsow: Das weiß man jetzt nicht. Ich mag seine norddeutsche Art. Aber politisch hat er natürlich einiges gemacht, was ich nicht unterstütze. Andererseits hat er in der Coronakrise den Weg freigemacht für die hohen Kreditaufnahmen. Das hat uns auch in den Ländern politische Gestaltungsspielräume geschaffen.

"Tabubruch" vom 5. Februar: FDP-Politiker Thomas Kemmerich wurde mit AfD-Stimmen in Thüringen zum Kurzzeit-Ministerpräsidenten gewählt. Hennig-Wellsow warf ihm daraufhin einen Blumenstrauß vor die Füße.

"Tabubruch" vom 5. Februar: FDP-Politiker Thomas Kemmerich wurde mit AfD-Stimmen in Thüringen zum Kurzzeit-Ministerpräsidenten gewählt. Hennig-Wellsow warf ihm daraufhin einen Blumenstrauß vor die Füße.

Foto: Martin Schutt / DPA

SPIEGEL: Wie groß muss eine rot-rot-grüne Mehrheit sein, um linke Abweichler zu kompensieren, die Kompromisse generell ablehnen?

Hennig-Wellsow: Wichtig ist, dass die Koalition ein gemeinsames Ziel hat, das alle drei Parteien teilen und schützen wollen. Dann wird ein solches Bündnis auch bestehen, weil jeder einzelne Abgeordnete weiß um was es geht.

SPIEGEL: Auf der umstrittenen Strategiekonferenz der Linken im Februar saßen Sie auf dem Podium, während im Publikum Genossen von einer Schwächung des "parlamentsfixierten Abgeordnetenbetriebs" fabulierten oder SPD und Grüne als "Halbrechte" abkanzelten. Ist mit solchen Linken Staat zu machen?

Hennig-Wellsow: Da mache ich mir keine Sorgen. Ich habe bei dem Treffen in Kassel dafür geworben, dass wir als Linke den Mut haben, Verantwortung zu übernehmen und Demokratie zu leben. Was dort von einzelnen gesagt wurde, teile ich nicht und ich würde das auch niemals unterstützen. Diese Stimmen sind aber nicht entscheidend für den Kurs der Linken. Sollte es tatsächlich einen Koalitionsvertrag geben, entscheidet die Basis und damit die Mehrheit unserer Partei.

SPIEGEL: Im Moment sorgen gleich mehrere Fraktionsmitglieder in der Öffentlichkeit für Irritationen. Oberrealo Gregor Gysi mutmaßt etwa, der Kremlkritiker Alexej Nawalny sei von Gegnern des Pipeline-Projekts Nord Stream 2 vergiftet worden. Was sollen diese Verschwörungserzählungen?

Hennig-Wellsow: Ich persönlich spekuliere nicht darüber. Der Anschlag auf Alexej Nawalny ist ein Verbrechen. Das dürfen wir nicht hinnehmen. Aber ich bin dafür, dass erst einmal aufgeklärt wird, wer es tatsächlich war. Und da ist die russische Regierung in der Pflicht.

"Regierungslinke": Ministerpräsident Bodo Ramelow, Fraktionschefin Hennig-Wellsow

"Regierungslinke": Ministerpräsident Bodo Ramelow, Fraktionschefin Hennig-Wellsow

Foto: HANNIBAL HANSCHKE/ REUTERS

SPIEGEL: Moskau hat sich in der Vergangenheit nicht gerade als glaubwürdiger Aufklärer in solchen Fällen hervorgetan.

Hennig-Wellsow: Das stimmt, aber wir müssen das trotzdem einfordern.

SPIEGEL: Fraktionsvize Andrej Hunko wiederum sucht offensichtlich die Nähe zu den Demonstranten gegen die Corona-Maßnahmen. Hat die Linke ein Faible für Verschwörungsideologien?

Hennig-Wellsow: Nein. Wir sollten kein Verständnis für solche Demonstranten zeigen. Diese Proteste sind gefährlicher Irrsinn. 

SPIEGEL: In Thüringen praktizieren Sie das Gegenteil von linker Radikalpolitik, arbeiten Sie sogar mit der CDU zusammen. Wie läuft das?

Hennig-Wellsow: Es gibt nach dem Tabubruch vom 5. Februar einen kleinsten gemeinsamen Nenner mit der CDU - nämlich, dass wir uns nicht von Faschisten wie der AfD abhängig machen lassen. Ohne diese Verständigung werden wir in der jetzigen Gesellschaft keine Politik machen können, auch wenn es in der Zusammenarbeit mit der CDU natürlich politische Grenzen gibt.

SPIEGEL: Verträgt die Linke auch im Bund so viel Pragmatismus?

Hennig-Wellsow: Ich galt in Thüringen selbst mal als Linksradikale und dann habe ich die Linke in die Regierung geführt. Zum Regieren braucht es realistische und radikale linke Einstellungen, die bilden zusammen einen roten Faden. Und dann können wir pragmatische Politik mit unseren Koalitionspartnern machen. In drei Bundesländern und in vielen Kommunen beweisen wir das seit Jahren. 

SPIEGEL: Ihre Wunschpartnerin Janine Wissler polarisiert besonders, weil sie den umstrittenen Trotzkisten von Marx21 nahesteht, die den Parlamentarismus kritisch sehen. Sollte sich Wissler von dieser Gruppe öffentlich distanzieren?

Hennig-Wellsow: Marx21 spielt für unsere Arbeit keine Rolle. Janine weiß als hessische Fraktionsvorsitzende sehr genau, dass sie auch immer Teil eines Teams ist. Sie hat in den vergangenen Jahren bewiesen, dass sie eine pragmatische Politikerin ist. Sie hat übrigens selbst schon Koalitionsverhandlungen geführt. Ich habe keinen Grund, an ihr zu zweifeln. Wir sind miteinander im Reinen.

SPIEGEL: Wann haben Sie mit Wissler denn zum ersten Mal über die Möglichkeit einer weiblichen Doppelspitze gesprochen?

Hennig-Wellsow: Vor etwa zwei Wochen. Das ist kein lange geplantes Projekt. Aber jetzt ist die Zeit reif für uns beide.

SPIEGEL: Gerade unter den pragmatischen Ost-Linken tun sich manche mit Wissler schwer.

Hennig-Wellsow: Das kann ich nicht bestätigen. Ich habe zuletzt viele Gespräche geführt und fühle mich gut beraten. Letztlich musste ich eine persönliche Entscheidung treffen. Am Freitagmorgen hatte ich endgültig das Gefühl: Ich bin bereit. Dann habe ich mich kurzfristig entschlossen, jetzt den Schritt zu gehen, und mich mit Janine verständigt.

SPIEGEL: Ist Ihr Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow eigentlich sauer auf Sie? Immerhin wollen Sie wenige Monate vor der wichtigen Landtagswahl von Bord gehen.

Hennig-Wellsow: Nein, er unterstützt das. Wir haben viele kluge Köpfe, die in Thüringen fortführen, was wir begonnen haben. Und dass ich als Bundesvorsitzende erst recht in Thüringen Wahlkampf mache, versteht sich von selbst.

SPIEGEL: Noch-Parteichefin Kipping werden Ambitionen auf die Spitzenkandidatur bei der Bundestagswahl nachgesagt. Würden Sie das unterstützen?

Hennig-Wellsow: Katja Kipping ist eine der wichtigsten Persönlichkeiten in der Partei und eine Frau, die wir nicht verlieren dürfen.

SPIEGEL: Stünden Sie als Vorsitzende auch in einer anderen Konstellation zur Verfügung?

Hennig-Wellsow: Janine und ich werden beim Parteitag jedenfalls nicht gegeneinander antreten.

SPIEGEL: Es gab 2012 schon einmal den Versuch, eine weibliche Doppelspitze zu installieren. Damals wollten Kipping und Katharina Schwabedissen antreten. Am Ende kam nur Kipping durch. Was macht Sie zuversichtlich, dass es diesmal anders läuft?

Hennig-Wellsow: Das liegt lange zurück. Und ich glaube, Janine und ich machen jetzt den Unterschied. Wir machen Mut.

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