Terroranschlag von Frankfurt Alptraum Einzeltäter

Analog unauffällig, digital umso radikaler: Wohnhaus von Arid U. in Frankfurt
Foto: dapdBerlin - Der Frankfurter Airport-Attentäter Arid U. hat in seinem ersten Verhör durch die Polizei bestritten, dass er seinen Anschlag auf eine Gruppe US-Soldaten am Mittwochnachmittag als Mitglied einer militanten Gruppe ausgeführt hat. Es habe keine Komplizen gegeben. Stattdessen sagte der 21-Jährige nach Informationen von SPIEGEL ONLINE aus, er habe nur einen Tag vor der Bluttat im Videoportal YouTube ein Video gesehen, in dem es angeblich um Vergewaltigungen von Musliminnen gegangen sei. Der Film habe ihn dermaßen aufgeregt, dass er sich entschlossen habe loszuschlagen.
Man halte die Aussagen vorläufig für glaubhaft, sagte ein hochrangiger Fahnder. Gleichwohl seien weitere Ermittlungen nötig, um den Verdacht einer Gruppe hinter dem Schützen auszuschließen.
Um welchen Film es sich handelt, ist unklar - ebenso, ob Arid U. die Wahrheit erzählt, einen Teil der Wahrheit oder Erfundenes. Sicher ist, dass Filme dieser Art, oftmals Gräuel-Propaganda, in dschihadistischen Online-Zirkeln seit langem weitergereicht werden. "Afghanisches Mädchen zu Tode vergewaltigt": Ein Link zu einem Film mit dieser Überschrift zum Beispiel wurde am 18. Januar von einem Facebook-Freund des geständigen Todesschützen weiterverbreitet. Die angeblichen Täter sollen meistens US-Soldaten sein. Zwei US-Soldaten tötete Arid U. am Mittwoch vor dem Terminal 2 des Frankfurter Flughafens denn auch, zwei weitere Menschen verletzte er schwer.
Der erste dschihadistische Terroranschlag mit Todesfolge
Es war der erste islamistisch motivierte Terroranschlag in Deutschland mit Todesfolge. Doch ob es wirklich eine spontane Tat war, ist zweifelhaft. Zum einen deutet der Tatablauf darauf hin, dass Arid U. wusste, wann und wo er auf die US-Soldaten treffen würde - was ein gewisses Maß an Vorbereitung nahelegt. Zum anderen gab er in dem Verhör nach Informationen von SPIEGEL ONLINE zu, dass er die Tatwaffe bereits vor Monaten gekauft hat, für exakt 1000 Euro inklusive Munition.
Am Donnerstagabend wurde schließlich Haftbefehl gegen den Attentäter erlassen. Arid U. wird wegen des dringenden Tatverdachts des Mordes in zwei Fällen sowie des versuchten Mordes in drei Fällen und der gefährlichen Körperverletzung in zwei Fällen angeklagt, teilte ein Sprecher der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe mit.
Ermittler wühlen jetzt durch das Leben des Frankfurters, der mit seiner Familie und zwei Brüdern im Stadtteil Sossenheim lebte. Die zahlreichen digitalen Spuren, die er hinterlassen hat, identifizieren ihn als radikalen Islamisten. Doch offenbar erst im Nachhinein. Die deutschen Behörden führten ihn nicht als Gefährder, hatten ihn nicht im Visier. In der physischen Welt, so der Eindruck bisher, führte er offenbar ein weit weniger verdächtiges Leben. Bis jetzt ließ er sich noch nicht als Kontaktperson eines anderen Terrorverdächtigen oder verurteilten Terroristen identifizieren.
Ermittler halten es für möglich, dass Arid U. sich erst innerhalb der letzten Monate, dafür aber rasend schnell radikalisierte. Dafür spricht auf den ersten Blick seine massiv gesteigerte Internetaktivität in diesem Zeitraum. Aus dem Ausland sind ähnliche Fälle bereits bekannt: analog unauffällig, digital dafür umso radikaler.
"Ein Alptraumkandidat"
"Der Mann ist der Alptraumkandidat, vor dem wir die letzten Jahre immer wieder gewarnt haben", sagte ein Ermittler. Bislang hatten die Behörden es meistens mit Gruppen zu tun, die sich über Monate oder gar Jahre mit komplizierten Plänen für einen Anschlag abmühten und dabei oft unbeabsichtigt auf sich aufmerksam machten. "Gegen solche Täter können wir aber kaum etwas ausrichten", sagt der Fahnder, "sie radikalisieren sich völlig unauffällig zu Hause und treten erst mit der Tat in unser Raster." Gegen dieses Problem lasse sich kaum etwas unternehmen, auch nicht mit hohem Personalaufwand.
Terrorforscher beobachten seit einigen Jahren, dass es anscheinend immer mehr Instant-Dschihadisten gibt. Je kürzer die Radikalisierungsverläufe, desto schwieriger sind sie zu entdecken. Einige Analysten sprechen in diesem Zusammenhang von "Lone Wolf"-Terroristen - einsamen Wölfen.
Aber diese Theorie ist umstritten. Andere Forscher halten dagegen, dass sich im Nachhinein fast immer ein Netzwerk in der realen Welt rekonstruieren lässt - nur dass es eben nicht mehr so häufig wie früher Querverbindungen zu etablierten terroristischen Organisationen gibt. Aber, so diese Forscher-Fraktion, alleine radikalisiere sich in Wahrheit fast niemand. Und selbst wenn: Fälle, in denen ein Einzeltäter einen Anschlag alleine konzipiere, vorbereite und durchführe, seien extrem selten.
Al-Qaida und Co. setzen vermehrt auf Nadelstiche
Andererseits: Al-Qaida und Co. versuchen genau diesen Modus Operandi populär zu machen. Sie fordern Dschihad-Freiwillige im Westen auf, nicht mehr ins Ausland zu reisen, sondern in ihren Heimatländern zuzuschlagen, auch wenn solche Attacken weniger spektakulär sind. Nadelstiche statt ein zweites 9/11, eine einfach zu besorgende Waffe statt aufwendig zu produzierendem Sprengstoff: So fordern es einige Terror-Vordenker.
Wie es in diesem Fall war, muss nun geklärt werden - auch um sicherzustellen, dass nicht weitere Attentäter auf Abruf bereit stehen.
Sicher ist unterdessen, dass Arid U.s Anschlag zwei Ziele traf, die seit Jahren im Visier dschihadistischer Terroristen stehen: in Deutschland stationierte US-Soldaten und den größten Flughafen des Landes.
Schon die Sauerland-Gruppe wollte US-Soldaten treffen
Schon die Sauerland-Gruppe um Fritz Gelowicz, Daniel Schneider und Adem Yilmaz, die 2007 verhaftet wurde, wollte US-Soldaten mit Bomben überziehen. Gelowicz hegte Hass auf die USA wegen des "Kriegs gegen den Terror", den er als Angriff auf den Islam empfand. Yilmaz wollte Rache für Guantanamo und Abu Ghuraib, wie er zu Protokoll gab. Den Flughafen Frankfurt schienen sie als mögliches Ziel ebenso diskutiert zu haben wie andere Terrorverdächtige mit Deutschland-Bezug, die sich zumindest vor wenigen Monaten noch im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet aufhielten.
Schon mehrmals in den letzten Jahren sahen sich die USA wegen geheimdienstlicher Erkenntnisse genötigt, die Schutzmaßnahmen vor ihren Einrichtungen in Deutschland zu erhöhen - und als der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière im vergangenen November die Terrorwarnstufe anhob, wurden Flughäfen besonders gesichert.
Sicher wird nun genau untersucht werden, wie es zu diesem Anschlag kommen konnte. Andererseits war aber schon am Tag danach in Sicherheitskreisen zu vernehmen, dass sich so etwas eben nicht verhindern lässt. "Es war klar, dass es irgendwann passiert", sagt ein Beamter. "Es hätte schlimmer kommen können."