Jenas FDP-Oberbürgermeister "Das Tragen einer Maske ist kein Eingriff in die Grundrechte"

FDP-Oberbürgermeister Nitzsche
Foto: Bodo Schackow/ picture alliance/dpaSPIEGEL: Herr Nitzsche, Sie waren der erste Oberbürgermeister Deutschlands, der eine Maskenpflicht eingeführt hat (Hintergründe dazu hier). Werden Sie auch der letzte sein, der sie wieder abschafft?
Thomas Nitzsche: Wir brauchen die Masken, bis ein Impfstoff gefunden ist. Und das kann noch ziemlich lange dauern. Wir in Jena haben also noch keinen Zeitplan, wann wir den Mund-Nasen-Schutz wieder abschaffen wollen. Im Moment ist das ja auch vom Land Thüringen zentral geregelt.
SPIEGEL: Wenn das Land die Maskenpflicht abschaffen sollte, halten Sie in Jena dann nichtsdestotrotz daran fest?
Nitzsche: Es ist inzwischen schwierig, weitergehende Maßnahmen anzuordnen, als das Land vorgibt. Wir wollten zum Beispiel als Stadt Jena die thüringenweite Maskenpflicht in den Schulen auch auf den Unterricht selbst ausweiten. Diese Idee hat ein Gericht einkassiert. Argument waren die niedrigen Infektionszahlen in Jena, die eine Abweichung von der Landeslinie nicht begründen würden.

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Thomas Nitzsche, geboren 1975, ist seit Juli 2018 Oberbürgermeister der 110.000-Einwohnerstadt Jena in Thüringen. Er studierte Anglistik und Politikwissenschaft. 2012 trat er erstmals für die FDP als Oberbürgermeisterkandidat an, erhielt nur 2,4 Prozent der Stimmen. 2018 gewann er schließlich überraschend in der Stichwahl gegen den SPD-Amtsinhaber. Überregionale Bekanntheit erlangte Nitzsche, als er Anfang April 2020 als erster Oberbürgermeister eine Pflicht zum Tragen eines Mund-Nase-Schutzes in Geschäften und im Öffentlichen Personennahverkehr einführte.
SPIEGEL: Als Sie Anfang April die Pflicht einführten, gab es mächtige Widerstände. Wie blicken Sie heute darauf zurück?
Nitzsche: Die Entscheidung war richtig. Wir haben seitdem nur vereinzelt Fälle in Jena. Unsere Sichtweise auf die Masken hat sich zum Glück deutschland- und europaweit durchgesetzt.
SPIEGEL: Hat die Bundesregierung einen Fehler gemacht, als sie sich anfangs gegen die Masken stellte?
Nitzsche: Es war nicht hilfreich, dass auch Minister damals vor die Kameras getreten sind und sagten, die Masken seien falsch. Die eigentliche, aber nicht ausgesprochene Befürchtung war ja, dass man es nicht schaffen würde, in kurzer Zeit genügend Masken zu beschaffen. Das hätte man klarer kommunizieren sollen. Wir erleben bis heute, dass die Maskengegner in den sozialen Medien mit Falschbehauptungen arbeiten. Das geht sicher auch auf diese Fehlkommunikation zu Beginn der Debatte zurück.
SPIEGEL: Haben Sie ein Beispiel dafür?
Nitzsche: Das geht von der angeblichen CO2-Konzentration hinter den Masken bis dahin, dass gesagt wird, das Virus sei so klein, es würde auch durch die Maschen der Alltagsmasken passen. Es hilft nur immer wieder zu wiederholen, dass das Virus nicht freischwebt, sondern in Tröpfchen transportiert wird, die sehr wohl von Masken zurückgehalten werden. Vom Bund braucht es jetzt dringend klare Kommunikation, damit die Akzeptanz für die Maske auf dem hohen Level bleibt, wie es derzeit der Fall ist.
SPIEGEL: In Ihrer FDP sprechen einige von einem "Ausstiegsszenario" bei der Maskenpflicht, als ginge es um den Ausstieg aus der Nato. FDP-Bundestagsfraktionsvize Michael Theurer sagt: "Wo es regional über einen längeren Zeitraum gar kein akutes Infektionsgeschehen gibt, ist sogar der sehr geringfügige Eingriff einer Maskenpflicht nicht mehr verhältnismäßig." Trifft das auf Jena nicht zu?
Nitzsche: Ich spreche hier als Oberbürgermeister, nicht als FDP-Politiker. Ich hielte es für einen Fehler, die Frage der Maskenpflicht parteipolitisch aufzuladen. Hier geht es um Infektionsschutz. Die Maske ist eines der effizientesten, wirksamsten, zugleich aber auch mildesten Mittel, die wir haben, um das Virus einzudämmen. Die Maske ist zuerst Schutz, nicht zuerst Last. Das Tragen einer Maske ist unbequem, aber kein Eingriff in die Grundrechte. Wenn wir die Maske jetzt abschaffen und es zu einer zweiten Corona-Welle kommen sollte, würde es sicher ungleich schwerer, die Akzeptanz bei der Bevölkerung neu wiederherzustellen. Deshalb wäre es besser, eine Gewöhnung daran bei den Menschen hinzubekommen.

Jenaer Altstadt
Foto: imago images/SchöningSPIEGEL: Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow will weg vom Zwang, hin zu mehr Selbstverantwortung. Schlägt da Ihr liberales Herz nicht höher?
Nitzsche: Wir sehen bereits eine Polarisierung bei dem Thema. Die Maskengegner sind klar in der Minderheit, treten aber immer radikaler auf. Ich fürchte, dass mit Abschaffung der Pflicht nicht nur die Hardcore-Verweigerer die Maske nicht mehr nutzen, sondern auch die Gleichgültigen, die sich nicht so viel Gedanken darüber machen. Deshalb braucht es die Pflicht.
SPIEGEL: Zuletzt haben zwei CDU-Wirtschaftsminister aus den Ländern die Maskenpflicht im Einzelhandel in Frage gestellt, weil dadurch weniger Menschen einkaufen gingen. Wie sehen Sie das?
Nitzsche: Vielleicht ist es genau anders herum. Im Vorteil könnten gerade die Geschäfte sein, die ihren Kunden glaubhaft kommunizieren, dass sie wegen klarer Hygieneregeln nach dem Einkauf sicher und gesund wieder nach Hause gehen können. Ebenso gilt das für Restaurants.
SPIEGEL: Sie können das Drängeln mancher Branchen nicht nachvollziehen?
Nitzsche: Doch, kann ich. Aber gerade die besonders hart getroffenen Branchen, die davon abhängen, viele Menschen in geschlossenen Räumen zusammenzubringen - denken Sie an Kulturveranstaltungen oder Kongresse – sind für ihr Überleben doch auf die Akzeptanz der Maske angewiesen. Denn es ist schwer vorstellbar, dass diese Unternehmen zeitnah sichere Konzepte vorlegen können, die keinen Mund-Nasen-Schutz beinhalten.
SPIEGEL: Sehen Sie abseits der generellen Abschaffung Raum für Lockerungen der Maskenpflicht?
Nitzsche: Was wir in Jena gelernt haben: Wenn die Menschen die Masken nur kurz tragen müssen, dann ist die Akzeptanz hoch. Zum Beispiel während der Viertelstunde in der S-Bahn oder eben beim Einkaufen. Sie sinkt aber, wenn die Menschen den ganzen Tag Maske tragen sollen. Bei Verkäufern in Geschäften zum Beispiel könnten wir also überlegen, ob auch sie die Maske tragen müssen oder ob die Pflicht nur für die Kundschaft gilt. Das wäre infektionstechnisch vielleicht vertretbar. Andererseits gab es auch schon vor Corona Berufsgruppen, die die ganze Zeit Maske tragen mussten, etwa OP-Schwestern oder Chirurgen. Eine nicht politisierte Debatte darüber wäre sicher sinnvoll.