Thüringens SPD-Innenminister Maier "Menschen sind in Krisen bereit, den größten Unfug zu glauben"

Georg Maier: "Es gibt keine Rechtfertigung dafür, die Integrität unserer Polizei strukturell infrage zu stellen"
Foto: Martin Schutt/ picture alliance/ dpaSPIEGEL: Die Bundesregierung hat ein gigantisches Konjunkturpaket beschlossen. Ist der Osten dabei angemessen berücksichtigt worden?
Maier: Bei den Sonderrenten übernimmt der Bund jetzt einen größeren Anteil. Eigentlich müsste der Bund das komplett zahlen, aber 50 Millionen Euro mehr für Thüringen sind ein gutes Zeichen. Auch die Hilfen für den Mittelstand und die Senkung der Mehrwertsteuer helfen uns.
SPIEGEL: Die SPD ist in Thüringen bei der Wahl 2019 auf 8,2 Prozent abgestürzt. Können Sie von dem, was in Berlin passiert, profitieren?
Maier: Ja, wenn wir deutlich machen, dass wir die treibende Kraft sind. Es ist immer schwierig, sich gegenüber dem großen Koalitionspartner zu behaupten. Das Problem haben wir auch in Thüringen. Wir müssen laut sein und auch mal zuspitzen. Der "Wumms" ist ein gutes Beispiel. Wir müssen nun deutlich machen: Das ist ein SPD-"Wumms".
SPIEGEL: Den Begriff hat Vizekanzler Olaf Scholz geprägt. Wäre er ein guter Kanzlerkandidat?
Maier: Selbstverständlich. In der Krise gilt es, ruhig und souverän zu agieren, damit die Bevölkerung das Gefühl hat: Die Regierung hat die Sache im Griff. Das macht Scholz hervorragend, er hat sich für die Kandidatur empfohlen.
SPIEGEL: Fraktionschef Rolf Mützenich wird auch gehandelt.
Maier: Es werden immer mehrere Namen genannt. Ich habe 2013 mal für einen Kanzlerkandidaten gearbeitet, für Peer Steinbrück. Das Wichtigste ist, dass wir nicht wieder in diese Kandidatur reinstolpern.
SPIEGEL: Wie zuletzt eigentlich immer. Sind Sie zuversichtlich, dass es diesmal besser klappt?
Maier: Es wird schwierig. Eine bewusste, saubere und klare Entscheidung für eine Person zu treffen, hinter der sich alle versammeln, das ist die hohe Kunst. Das ist uns schon einige Male nicht gelungen. Wir müssen aus den Fehlern der Vergangenheit lernen.
SPIEGEL: Auch bei Ihnen steht eine Personalentscheidung an. Der Landesvorsitzende Wolfgang Tiefensee gibt seinen Posten auf. Sie gelten als aussichtsreicher Bewerber. Treten Sie an?
Maier: Ich habe das auch in der Zeitung gelesen. Als Schatzmeister und Minister bin ich sicherlich eine der Personen, die infrage kommen. Aber mehr möchte ich dazu im Moment nicht sagen.
SPIEGEL: Können Sie sich vorstellen, Teil einer Doppelspitze zu sein?
Maier: Unsere Satzung sieht das bisher nicht vor. Wir werden sehen, wie sich der Landesvorstand perspektivisch hierzu positioniert.
SPIEGEL: Thüringen hat jetzt offiziell die Kontaktbeschränkungen aufgehoben. Ministerpräsident Bodo Ramelow von der Linkspartei hat zuvor massiv auf eine Aufhebung gedrungen. Wie fanden Sie das als Koalitionspartner?
Maier: Wir wurden davon kalt erwischt - und zwar alle in der Koalition. Die Kabinettsmitglieder wussten nichts von seinem Vorstoß. Ramelow hat ja immer wieder versucht klarzustellen, was er genau gemeint hat. Aber ich weiß es bis heute nicht. Die Kanzlerin hat es ganz gut auf den Punkt gebracht: Die Äußerungen waren zweideutig.
SPIEGEL: Haben Sie den Eindruck, dass er eingesehen hat, einen Fehler gemacht zu haben?
Maier: Nein. Die von der Linken geführten Ministerien machen ja auch etwas ganz anderes. Dort wurden die Lockerungen bisher nicht so umgesetzt, wie ich das eigentlich nach den Äußerungen des Ministerpräsidenten erwartet hätte.
SPIEGEL: Was war denn aus Ihrer Sicht sein Kalkül?
Maier: Er wollte deutlich machen, dass wir nicht stur an den Beschränkungen festhalten, wenn es in großen Teilen des Landes keine Neuinfektionen gibt. Das finde ich richtig. Die Verantwortung liegt jetzt stärker in den Regionen und bei jedem Einzelnen. Um durch die Pandemie zu kommen, müssen wir alle unser Verhalten ändern: Abstand halten, in engen Räumlichkeiten Mund-Nasen-Schutz tragen, Menschenansammlungen vermeiden. Aber einen Bruch hat es in unserem Regierungshandeln nie gegeben. Ramelow hat Verwirrung gestiftet. Daran gab es im Kabinett deutliche Kritik. Aber es ist kein Thema, das die Koalition auseinanderdividiert.
SPIEGEL: In diesen Tagen kann man ja den Eindruck bekommen, die Pandemie sei ausgestanden: Was denken Sie, wenn Sie sehen, wie Tausende Menschen dicht gedrängt und oft ohne Maske gegen Rassismus demonstrieren?
Maier: Es ist schlicht und ergreifend unverantwortlich, die Schutzmaßnahmen auf diese Weise zu ignorieren, auch wenn das Anliegen berechtigt ist.
SPIEGEL: Ihre Parteivorsitzende Saskia Esken spricht von einem latenten Rassismus bei der Polizei und fordert eine unabhängige Aufarbeitung. Was sagen Sie dazu?
Maier: Ich verwehre mich gegen Äußerungen, es gebe in den deutschen Sicherheitsbehörden einen latenten Rassismus. Es gibt keine Rechtfertigung dafür, die Integrität unserer Polizei strukturell infrage zu stellen. Wir wissen, dass es Einzelfälle gibt, denen wir mit aller Härte des Rechtsstaates nachgehen. Es gilt unumwunden: null Toleranz für Rassismus! Aber: Unsere Polizeibeamtinnen und -beamten brauchen gerade in der jetzigen Zeit ein klares Bekenntnis der Politik, dass sie hinter ihnen und ihrer schwierigen Arbeit steht.
SPIEGEL: Wie steht es mit dem Rassismus-Problem in der Thüringer Polizei?
Maier: Wir in Thüringen haben das Vorgehen gegen Rassismus schon vor einigen Jahren zu einem zentralen Thema in der Polizeiausbildung gemacht, und wir haben eine Vertrauensstelle geschaffen, an die sich Betroffene wenden können. Nicht zuletzt bei den vielen Einsätzen gegen rechtsextremistische Umtriebe hat die Thüringer Polizei unter Beweis gestellt, dass wir konsequent gegen Rassismus und Menschenfeindlichkeit vorgehen.
SPIEGEL: Sie sind aktuell Vorsitzender der Innenministerkonferenz, die Mitte Juni tagt. Auf Anti-Corona-Demos gab es eine Mischung von ganz rechts bis ganz links. Ist das eine neue Gefahr?
Maier: Wir müssen das sehr, sehr ernst nehmen, auch wenn einem manche dieser Demos abstrus vorkommen. Aber Menschen sind gerade in Krisen bereit, den größten Unfug zu glauben und das zu verinnerlichen. Die bestehenden rechtsextremistischen Parteien, auch die Neurechten, "der dritte Weg" oder die "Identitäre Bewegung", die "Reichsbürger" nutzen das, um ihre Strategie der Entgrenzung - also das Vordringen in bürgerliche Schichten - umzusetzen.
SPIEGEL: Im vergangenen Herbst haben Sie den Thüringer Polizeibeamten mit disziplinarrechtlichen Konsequenzen gedroht, wenn diese sich zum "Flügel"-Netzwerk in der AfD bekennen. Warum?
Maier: Für jeden Beamten, für jede Beamtin war das ein ganz deutliches Signal, dass der Dienstherr ein Auge darauf hat. Das heißt aber nicht, dass wir jetzt herumstöbern. Wir gehen Hinweisen nach und wenn sie sich bestätigen, drohen disziplinarische Konsequenzen.
SPIEGEL: In der SPD beklagen sich Uniformträger, dass ihnen wenig Verständnis entgegengebracht wird. Zu Recht?
Maier: Die SPD ist eine staatstragende Partei und steht zu den Institutionen des Staates, zu Bundeswehr, Polizei, zum Verfassungsschutz. Ich habe kürzlich die Vereidigung der neuen Anwärterinnen und Anwärter der Polizei auf dem Domplatz in Erfurt abhalten lassen, mit Nationalhymne, mitten in der Gesellschaft. Viele haben mir davon abgeraten, das werde schiefgehen. Nichts ist passiert. Viele Passanten sind stehen geblieben und fanden das gut. Selbst der Bischof war dafür. Wichtig war mir vor allem das Signal an die jungen Polizistinnen und Polizisten.
SPIEGEL: Innenpolitisch hört man von der SPD aber weniger als früher.
Maier: Wir haben zwar viele Innenminister in den Ländern, aber auf dem letzten Bundesparteitag gab es in der Tat keine einzige Wortmeldung zum Thema innere Sicherheit. Da habe ich mir schon gedacht: Da lassen wir ein riesiges Feld brachliegen. Das müssen wir ändern.
SPIEGEL: Kommen wir zur AfD. Das Netzwerk "Flügel" hat sich Ende April aufgelöst. Nehmen Sie das dem maßgeblichen Mann, dem Thüringer AfD-Chef Björn Höcke, ab?
Maier: Nein. Der "Flügel" heißt nun nicht mehr so, aber informell macht er einfach weiter. Für uns gibt es keine Entwarnung.
SPIEGEL: Manche in der AfD sagen, Höcke sei ein Teil dieser Partei. Was ist er für Sie?
Maier: Höcke ist ein Demagoge, ein Rechtsextremist. Einer, der diese Partei Schritt für Schritt nach rechts führt. Immer wieder nimmt er Anleihen an der Sprache der Nationalsozialisten auf. Sein Wort vom "Ausschwitzen", das er gegenüber Kritikern in der AfD gebrauchte, war kein Versehen. Darauf muss man erst mal kommen!
SPIEGEL: Sind Sie erschrocken darüber, dass so viele Thüringer Höckes AfD wählen?
Maier: Höcke ist es gelungen, ein Feindbild zu konstruieren, hinter dem sich vor allem die Unzufriedenen scharen. Aber ich versuche, positiv nach vorn zu blicken: Die AfD verliert gerade in Umfragen. Ich denke, das liegt auch an Höckes extremistischem Kurs und dem innerparteilichen Richtungsstreit.
SPIEGEL: Sind Sie überrascht, dass AfD-Co-Parteichef Jörg Meuthen gegen einen Verbündeten Höckes, den Brandenburger AfD-Politiker Andreas Kalbitz, vorgeht und dessen Mitgliedschaft für nichtig erklären ließ?
Maier: Ja, zumal Meuthen einst die Nähe zu Höcke und Kalbitz gesucht hat. Offensichtlich verfolgt er den Plan, die AfD zu einer deutschen FPÖ zu machen. Das aber wird meines Erachtens schiefgehen, zumal noch gar nicht sicher ist, ob Meuthen die Krise in der AfD überleben wird.
SPIEGEL: Das Problem des Rechtsextremismus ist auch ohne Kalbitz in der AfD weiter virulent?
Maier: Das rechtsextremistische Gedankengut ist in der AfD sehr weit verbreitet. Ich stelle nicht fest, dass man sich davon löst.
SPIEGEL: Wird die AfD eines Tages als Gesamtpartei vom Verfassungsschutz unter Beobachtung gestellt?
Maier: Mit einer abschließenden Beurteilung halte ich mich zurück. Es gibt jetzt eine Entwicklung, die wir sehr genau beobachten.