Top-Spion gegen die Nazis Fischer ehrt den verschmähten Helden

Fritz Kolbe hat die Nazis verachtet. Mitten im Zweiten Weltkrieg wurde er zum wichtigsten Agenten der Amerikaner. Nach 1945 versuchte der Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes wieder in den Staatsdienst zurückzukehren - vergeblich. Jetzt wird Bundesaußenminister Joschka Fischer den fast Vergessenen ehren.

Berlin - Am 19. August 1943 ist Fritz Kolbe endlich am Ziel. In Bern trifft der Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes auf einen Mann, der ihm Gehör schenkt. Es ist Allen W. Dulles, hochrangiger Mitarbeiter der amerikanischen Botschaft, früher Wallstreet-Wirtschaftsanwalt, langjähriger Diplomat und Europakenner, angeblich in Sondermission für den US-Präsidenten tätig.

Doch in der Hauptstadt der neutralen Schweiz, damals ein Tummelplatz für Dienste vieler Staaten, wissen Eingeweihte längst, dass der Mann mit der Pfeife und der Intellektuellen-Brille für das "Office of Strategic Services" (OSS) arbeitet, dem Vorläufer der späteren CIA. Das ahnt Kolbe zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Er ahnt nur, dass vor ihm Männer sitzen, die an seinen Informationen Interesse zeigen - anders als die Briten, bei denen er ebenfalls hat anfragen lassen.

Der 19. August sollte für beide, für Allen Dulles und für Fritz Kolbe, ein Wendepunkt in ihrem Leben werden. Zu diesem Zeitpunkt waren die Amerikaner im Geschäft der Dienste vergleichsweise blutige Anfänger. Sie hatten keine einzige Quelle in Deutschland. Kolbe sollte den späteren Ruhm von Dulles mitbegründen. Und der Mann aus Berlin wiederum, Mitarbeiter im Auswärtigen Amt, der getarnt als Kurier seines Ministeriums in die Schweiz gereist ist, kann endlich seinen Beitrag zum Kampf gegen das Nazi-Reich leisten.

Informationen für den US-Präsidenten

Kolbe legt den Amerikanern an diesem Tag Kopien von Telegrammen aus dem Herzen des Machtapparates des Dritten Reiches und handgeschriebene Abschriften von Dokumenten vor: Über die Moral der Truppe an der Ostfront, über die Erfolge des Widerstands in Frankreich, über ein Treffen des Reichsaußenministers Joachim von Ribbentrop mit dem japanischen Botschafter in Berlin. Schließlich skizziert Kolbe ihnen auf einer Landkarte exakt Hitlers Hauptquartier in Ostpreußen - eine Tatsache, die den Alliierten bis zu diesem Zeitpunkt völlig unbekannt war.

Von diesem Tag an wird Kolbe, fast 43 Jahre alt, zum regelmäßigen Informanten des US-Geheimdienstes. Unter dem Decknamen "George Wood" liefert er dem Büro von Dulles bis 1945 Dokumente, darunter 1600 geheime Telegramme. Viele Informationen sind so brisant, dass sie auch an den US-Präsidenten Franklin Delano Roosevelt gehen, auch wenn dieser nie den Klarnamen Kolbes erfahren haben mag. So erfuhr der Regierungschef im Januar 1944 in einem Memorandum, dass der Inhalt eines vertraulichen Gesprächs zwischen seinem Vize Henry Wallace und dem Schweizer Botschafter in Washington an die Deutschen gelangt war.

Auch andere Informationen trugen dazu bei, den Amerikanern ein realistisches Bild der Nazis zu geben: So erhielten sie Informationen über die beabsichtigte Deportation und Liquidierung der Juden Roms, über einen Befehl des OKW-Chefs Wilhelm Keitel, nach dem Abfall Italiens von Deutschland alle italienischen Offiziere zu erschießen, die in den Dienst der Alliierten treten wollten, über einen geheimen deutschen Sender in dem (deutschlandfreundlichen) Irland, aber auch über die Entwicklung neuer Waffensysteme wie etwa Düsenjets.

Kolbe hat die Nazis schon früh verachtet. Der Berliner, der seit 1925 im diplomatischen Dienst ist, zeitweise in Madrid an der Botschaft arbeitet und aus seiner Abneigung gegen die Rassenpolitik der Nazis keinen Hehl macht, will Deutschland von den westlichen Alliierten befreit sehen. Er ist Demokrat und fürchtet, zu Recht, die Okkupation der Russen.

Immer wieder begibt er sich auf Fahrten in die Schweiz, riskiert entdeckt zu werden und sein Leben zu verlieren. Mit Kolbe hat Dulles seine beste Quelle aufgetan. Der frühere CIA-Direktor Richard Helms wird in seinen 2003 erschienen Memoiren schreiben, dass Kolbes Informationen "die besten waren, die jemals ein alliierter Agent während des ganzen Krieges lieferte".

Doch in Deutschland selbst bleibt Kolbe ein Unbekannter - jahrzehntelang.

Späte Ehrung

Fast 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs wird er offiziell von der Bundesrepublik geehrt. Am Donnerstag spricht Bundesaußenminister Joschka Fischer im Europasaal über Kolbe - zum Abschluss der dreitägigen Botschafterkonferenz. Viele der deutschen Diplomaten werden während der Gedenkveranstaltung wohl zum ersten Mal den Namen jenes Mannes hören, dessen Schicksal in der deutschen Öffentlichkeit noch immer weithin unbekannt ist.

1986 hatte die "Zeit" in einem Beitrag zwar an Kolbe erinnert, doch erst mit der Deklassifizierung von US-Geheimakten im Jahr 2000 konnte die bedeutsame Rolle des deutschen Agenten während des Zweiten Weltkrieges wirklich eingeschätzt werden. Es waren vor allem die Recherchen der SPIEGEL-Redakteure Axel Frohn und Hans Michael Kloth, die in einem Artikel vom September 2001 auf das Schicksal des Diplomaten aus dem Auswärtigen Amt hinwiesen.

Mittlerweile ist das Leben des Deutschen in einem ausgezeichnet recherchierten und spannend geschriebenen Buch des französischen Journalisten Lucas Delattre nachzulesen. 2003 in Frankreich erschienen, kam es nun auch in diesem Jahr auf den deutschen Markt. Bei der Sichtung der Dokumente konnte sich der jahrelange Deutschland-Korrespondent von "Le Monde" auch auf die Hilfe Peter Kolbes - des in Australien lebenden einzigen Sohnes - stützen, der ihm das Archiv seines Vaters Fritz zur Verfügung stellte. Am Donnerstagabend wird Delattre in der privat betriebenen Buchhandlung im Auswärtigen Amt aus "Fritz Kolbe - Der wichtigste Spion im Zweiten Weltkrieg" vorlesen.

Die Rache des Amtes

Mit der Ehrung durch den Bundesaußenminister widerfährt einem Mann postume Gerechtigkeit, der in der Nachkriegszeit kein Glück hatte. In den diplomatischen Dienst der 1949 gegründeten Bundesrepublik wurde er nicht wieder aufgenommen. Auch Allen Dulles konnte nichts für ihn erreichen.

Unter seinen früheren Kollegen im Auswärtigen Amt, von denen die meisten in der NSDAP waren, teils aus Überzeugung, teils nur nominell, galt er als "Verräter". Kolbe war dem Beitritt zur Partei allerdings stets trickreich aus dem Weg gegangen. Die Bundesrepublik der Adenauer-Ära wollte von ihm nichts wissen. Oder, wie es Buchautor Delattre ausdrückt: "Demokrat mit prowestlicher Einstellung war Fritz Kolbe ohne jeden Zweifel. Sein einziger Fehler war, dass er es lange vor den anderen gewesen war."

So blieb dem Mann, der einst nahe der Macht gearbeitet hatte, nichts anderes übrig, als anderweitig sein Auskommen zu finden. Bis zu seinem Tod schlug er sich als Geschäftsmann durch.

Kolbe selbst fühlte sich, wie er nach dem Krieg bekannte, als "deutscher Patriot". Er habe "zumindest einigen alliierten Persönlichkeiten" beweisen können, "dass es auch in Deutschland Leute guten Willens gibt und immer geben wird".

Im Februar 1971 starb Kolbe in Bern an Gallenkrebs. Die Amerikaner vergaßen ihn nicht. Bei seiner Beerdigung nahmen rund zehn Personen teil, darunter auch zwei unbekannte Männer. Sie legten einen Kranz nieder - im Auftrag des damaligen CIA-Direktors Helms.

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