Türkei-Beitritt Die Gespensterdebatte

Erneut droht der Unionsführung eine Diskussion zu entgleiten: Rechtzeitig vor dem Superwahljahr 2004 flirten CDU/CSU-Politiker mit diffusen Ängsten als Wahlkampfthema und kein Zeitpunkt scheint dafür geschmacklos genug. Die Äußerungen des Vizefraktionschefs Wolfgang Bosbach empören indes selbst seine Parteifreunde.

Berlin - War es ein Testballon oder hat sich Fraktionsvize Wolfgang Bosbach einfach nur vergaloppiert? Der Christdemokrat aus dem Rheinland, eigentlich ein Mann des liberalen Flügels, hatte Ende vergangener Woche nach den Anschlägen von Istanbul erklärt, mit einer schnellen Aufnahme der Türkei in die EU werde das "Terrorproblem importiert".

Schnell wurde das Thema zu dem, von dem alle Beteiligten scheinheilig behaupten, dass es das nicht werden dürfe: zur innenpolitischen Streitfrage. Der Kanzler nannte im Interview mit dem SPIEGEL Bosbachs Äußerungen "charakterlos", CSU-Landesgruppenchef Michael Glos konterte daraufhin, das Verhalten Schröders sei "infantil" und warnte vorsorglich schon einmal vor einer Argumentationskette, die nicht e i n einziger rot-grüner Vertreter auf Regierungsseite in den Mund genommen hatte: "Die schrecklichen Terroranschläge zur Begründung zu nehmen, die Vollmitgliedschaft der Türkei rasch zu verwirklichen, würde bedeuten, dass uns al Qaida das Gesetz des Handelns diktiert."

Der aufgeregte Streit gleicht zur Zeit einer innenpolitischen Farce. In der Sache hat sich durch die Anschläge von Istanbul nämlich nichts verändert. Die Bundesregierung tut das, was nach Attentaten zu erwarten ist: Sie gibt Solidaritäts- und Trauerbekundungen ab. Zusagen über eine beschleunigte Aufnahme aber, wie es die Union unterstellt, sind nicht gemacht worden. Zur Zeit ist in Sachen Türkei eher Symbolik angesagt.

Noch vor den Terrorattacken in Istanbul erhielt kürzlich der türkische Reiseunternehmer Vural Öger mit Zuspruch Schröders einen Platz auf der Europaliste der SPD. Die Kandidatur des erfolgreichen Geschäftsmannes zielt auf türkischstämmige Wähler hierzulande ab, mehr noch aber soll sie im kommenden Wahlkampf eine moderne SPD gegen eine scheinbar antiqierte Union abgrenzen. Eine Aussage über die weitere Zukunft der Türkei, in der EU oder angebunden durch einen Sonderstatus, ist damit beileibe noch nicht gemacht.

Noch mehr als sonst sind nach den Anschlägen Gesten gefragt. Außenminister Joschka Fischer hatte bereits am Freitag Bosbachs Bemerkungen zurückgewiesen, ohne sich aber in der Sache auf die Debatte einzulassen ("Es ist weiß Gott nicht der Augenblick solche Diskussion zu führen"). Am Montag reiste er in die Türkei - auch das darf als Zeichen des innenpolitischen Kampfes gewertet werden. Bilder des Ober-Grünen in Istanbul, vorzugsweise abgebildet auf den Titelblättern der großen türkischen Zeitungen mit ihren Europaausgaben - das wird in der türkischen Gemeinde in Deutschland seine Wirkung nicht verfehlen.

Es bleibt beim EU-Zeitplan

Konkret hat sich für die Türkei in ihren Bemühungen auf raschere Aufnahme in die EU durch die Anschläge nichts verändert. Weder zum positiven noch zum negativen. Es bleibt bei dem Fahrplan, den die EU sich für die Türkei vorgenommen hat. Und der sieht vor, dass die Regierungspolitiker am Bosporus im Verlaufe des kommenden Jahres erfahren werden, ob mit ihnen Beitrittverhandlungen aufgenommen werden oder nicht. Erst kürzlich hatte die EU-Kommission in einem Zwischenbericht der Türkei Fortschritte attestiert, zugleich aber Mängel in Fragen der Meinungsfreiheit, bei der Wahrung kultureller Rechte, beim Schutz der Religionsfreiheit und bei der Unabhängigkeit der Justiz festgestellt. Klarer als zuvor hatte die EU-Kommission zudem auf die Zypern-Frage hingewiesen. Komme es hier zu keiner Lösung, "könnte sich daraus ein ernstes Hindernis für die EU-Bestrebungen der Türkei ergeben". Bringt man es auf eine Gleichung, dann überwiegt in der EU die Skepsis, ob die Türkei eine Vollmitgliedschaft erhalten soll.

Vorsichtige Distanz in der Union

Bosbachs trauriger Verdienst ist es, dass er mit seinen Äußerungen den Europawahlkampf im Frühjahr kommenden Jahres vorweggenommen hat. Wiederholt hat die CSU damit gedroht, eine Vollmitgliedschaft, gegen die sie ist, zum Thema zu machen. Am internen Streit wird deutlich: CDU und CSU sind sich noch nicht klar darüber, wie polemisch das Thema letztes Endes abgehandelt werden darf. Kopfschütteln lösten Bosbachs Bemerkungen im Kreise der Unions-Experten aus. Der außenpolitische Sprecher der Fraktion, Friedbert Pflüger, stellte sich, wenn auch mit dezidiert zürückhaltenden Worten, gegen Bosbachs These. "Die Terroranschläge von al Qaida in Istanbul haben nichts mit der Frage einer EU-Mitgliedschaft der Türkei zu tun", so Pflüger am Montag in Berlin. Bosbach habe "mit seiner Stellungnahme einen falschen Eindruck vermittelt". Und: Die Unionsfraktion bleibe wie bisher "hinsichtlich einer übereilten EU-Mitgliedschaft skeptisch". Sie wolle aber "eine möglichst enge Anbindung" der Türkei an die EU. Das ist die Linie, die auch die CDU-Vorsitzende Angela Merkel vertritt.

Die Regierenden in Ankara wird die deutsche Debatte ohnehin kaum überrascht haben. Im September erst war der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan in Berlin mit CDU-Chefin Merkel zusammengetroffen. Dem Vertreter eines konservativen, wenn auch auf Demokratie und Pluralismus verpflichteten Islam hatte sie damals die Ablehnung ihrer Partei nahegebracht. Die Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union sei zum jetzigen Zeitpunkt nicht gegeben, so Merkel diplomatisch. Das könne natürlich auch im Wahlkampf vor der Europawahl im kommenden Jahr angesprochen werden, hatte sie zudem hinzugefügt. Allerdings, schränkte die CDU-Chefin damals ein, werde dies in verantwortungsvoller Weise und im Geiste der Freundschaft der beiden Länder geschehen.

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