Türkei und Europäische Union Ein Streit unter Brüdern
Berlin - Jörg Schönbohm stößt den rechten Arm nach oben, dann nach unten, seine Faust ist geballt, als wollte er einen Trupp in Marsch setzen. Der 66-jährige Ex-General pfeift kurz und ruft in den Saal hinein: "Komm, Wulf". Aber Wulf, der um fast vier Jahre jüngere Bruder, hört nicht hin. Er steht einige Meter entfernt und gibt seelenruhig ein Interview. Jörg Schönbohm zuckt mit den Achseln. Was wohl soviel heißen soll wie: So ist das mit dem Wulf.
Die beiden Brüder, beide in der CDU, der eine als Innenminister in Brandenburg, der andere Leiter der Adenauer-Stiftung in Ankara, haben an diesem Montagabend in Berlin eine Premiere hinter sich gebracht. Vor Publikum im Europahaus am Pariser Platz haben sie über den Türkei-Beitritt zur EU diskutiert. Jörg Schönbohm ist dagegen, Wulf dafür. Sie haben schon oft über das Thema gestritten. Privat. Sie wissen, was der andere sagen wird. Und dann sind da noch die Medienvertreter, die nichts lieber sehen als eine kleine Bruderschlacht. Früher haben die Brüder Schönbohm, drei an der Zahl, auch miteinander gestritten. Zankt euch nicht, habe die Mutter gesagt, erzählt Jörg Schönbohm. Und sie hätten geantwortet: "Mutti, wir zanken nicht, wir diskutieren nur."
So soll es auch an diesem Abend sein. Jörg Schönbohm referiert kühl Zahlen: Von den 15 alten EU-Mitgliedern seien nur 5,1 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig, in der Türkei hingegen 33,2 Prozent. Wenn das Land der Union beitritt und umgestaltet werde, drohe eine Landflucht. "Wo gehen die hin, die immigrieren? Die gehen dahin, wo sie Landsleute haben - und das ist Deutschland", sagt Jörg Schönbohm. Im Saal gibt es vereinzelt Applaus. Hinten sitzt eine Schulklasse der gymnasialen Oberstufe. "Zum jetzigen Zeitpunkt wäre eine Entscheidung zu früh", schlussfolgert er.
Wulf Schönbohm hat die ganze Zeit über ruhig zugehört. Doch als er antwortet, wird seine Stimme plötzlich laut. Sehr laut. Als habe er es im Saal mit Schwerhörigen zu tun. Als müsse er dagegen anschreien, gegen all die Argumente seines Bruders. Jörg Schönbohm und die CDU wollen der Türkei eine "privilegierte Partnerschaft" anbieten - eine Art EU-light-Version. Davon hält er nichts. Wulf Schönbohm will das Land, das er in den letzten sieben Jahren schätzen gelernt hat, in die EU hineinbringen. Er lobt die politischen und wirtschaftlichen Reformen. Er spricht vom weltpolitischen Signal, dass an die islamische Welt ausgehe, wenn eine demokratische und rechtsstaatliche Türkei in der EU sei und erinnert an die zahlreichen Versprechungen, die Brüssel gegenüber Ankara gemacht hat: "Die EU muss in sich und gegenüber der Welt glaubwürdig und gegenüber der Türkei fair sein".
Botschaften an CDU und CSU
Wulf Schönbohm nimmt sich die Freiheit, von seiner Partei abzuweichen. Er ist 1966 der CDU beigetreten, sein Bruder erst 1994. Wulf Schönbohm war ein enger Mitarbeiter von CDU-Generalsekretär Heiner Geißler. Er galt als Vordenker. Als Geißler 1989 nach einem internen Putschversuch gegen Helmut Kohl entlassen wurde, musste auch er gehen. "Ich hatte überhaupt keinen Konflikt mit Helmut Kohl", sagt er an diesem Abend: "Der hatte einen mit mir".
Wenn es darauf ankommt, nimmt er noch immer Rücksicht auf seine Partei. Als Angela Merkel kürzlich die Türkei besuchte, lehnte er Interviewanfragen ab. Er wollte nicht im Vorfeld der Visite einen medialen Konflikt mit der CDU-Chefin. Doch es rumort in ihm. Umso deutlicher wird er an diesem Montagabend, wenn es gegen die bayerische Schwesterpartei geht. "Lächerlich" nennt er Edmund Stoibers Hinweis, mit der Aufnahme der Türkei grenze die EU dann an Iran und den Irak. "Die Terroristen kommen sowieso", ruft er in den Saal hinein, "die kommen nicht aus dem Iran und dem Irak". Einige Türken im Saal klatschen.
Manche in der CDU wollen das christliche Europa gegen den Islam in Stellung bringen. Manche haben auch geglaubt, Jörg Schönbohm wolle das. Sie scheinen sich zu irren. Christentum gegen Islam, einen solchen Konflikt halte er für verfehlt, sagt er an diesem Abend. Es gebe zwar eine christliche Tradition, auch im weitgehend entchristlichten Brandenburg, sagt er. Aber zum Klischee eines Stock-Konservativen, für den ihn manche halten, will sich Jörg Schönbohm nicht machen lassen: "Ich will jetzt hier nicht der Kreuzritter sein für's christliche Abendland."
Sein Bruder Wulf nickt. Wie sie überhaupt so weit nicht voneinander weg zu liegen scheinen. Fast hat man den Eindruck, es fehlte nicht viel, und der Jüngere überzeugt den Älteren noch. Es sei falsch gewesen, dass die SPD das Thema Irak für ihren Wahlkampf missbraucht habe, ebenso falsch sei es, das "Thema Türkei im Wahlkampf zu missbrauchen", sagt Wulf Schönbohm. Jeder im Saal weiß, dass das auf die Union gemünzt ist, vor allem auf die CSU. Bruder Jörg wirft ein, er fände es gut, wenn man beide Themen aus dem Europawahlkampf heraushalten könne. "Ich", betont er, "werde dazu heute keinen Beitrag leisten."
Es ist ein munterer Abend. Für Wulf Schönbohm ist klar: Die EU muss der Türkei am Ende des Jahres den Beginn der Verhandlungen anbieten. Sonst gerate das Land in eine Krise. Dann würden die Kräfte im Militär und in der Bürokratie, die um ihre Privilegien fürchten, gestärkt. Wulf Schönbohm redet sich heiß. Der Beitritt selbst werde lange dauern, zehn bis fünfzehn Jahre und auch die Freizügigkeit werde für einen noch längeren Zeitraum eingeschränkt bleiben, glaubt er. Dafür hätten die Türken selbst Verständnis. Wulf Schönbohm wirbt und wirbt. Für ein Land, von dem er glaubt, dass es sich viel mehr Reformen zumutet als Deutschland. Für die Zukunft hat er eine Vision: Ist das Land am Bosporus erst einmal in der EU, "dann werden eher Deutsche in die Türkei gehen, weil die sich so super entwickelt hat." Da lacht der Saal - und auch der Bruder Jörg.