Überalterte Gesellschaft Das Tabu Bevölkerungspolitik
Berlin - Nach Angaben der Statstiker ging 2003 die Zahl der Lebendgeburten im Vergleich zum Vorjahr um 1,3 Prozent auf 715.000 zurück, während die Sterbefälle um 1,6 Prozent auf 858.000 zunahmen. Im vergangenen Jahr starben also rund 143.000 Menschen mehr als Kinder geboren wurden. Zuletzt gab es 1971 einen Geburtenüberschuss.
Das Schlimmste an der Entwicklung ist, dass man so gut wie nichts mehr daran ändern kann. Wenn nicht ein Wunder geschieht und jedes Pärchen in Deutschland demnächst mindestens zwei Kinder in die Welt setzt, drohen langfristig gesellschaftliche Konflikte unbekannten Ausmaßes.
Aber auch wenn das Wunder geschähe, wieder mehr Kinder geboren würden und jährlich noch 150.000 junge Leute aus dem Ausland einwanderten, ließe sich das Problem nur auf lange Sicht ausräumen. Weil nämlich die in den vergangenen 33 Jahren nicht Geborenen heute als potenzielle Eltern fehlen, "könnte auch die beste Familienpolitik mangels Adressaten das Blatt nicht wenden", schrieb der Bielefelder Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg kürzlich in "FAZ.NET".
Deshalb wird die Forderung nach einer aktiven "Bevölkerungspolitik" immer lauter - ein Wort, das in Deutschland ungute Erinnerungen auslöst, an Zeiten, als die Nazis den gebärfreudigen Frauen das "Mutterkreuz" verliehen. Jahrzehnte wurde es in der Bundesrepublik gemieden. Doch in Zeiten geringer Geburtsraten und einer zunehmend älteren Bevölkerung taucht der Begriff immer häufiger in der Debatte auf. "Ein Projekt junges Deutschland bedeutet: Bevölkerungspolitik", hieß es jüngst in einem Artikel der "Zeit".
Der SPD-Bundestagsabgeordnete und frühere Bürgermeister von Hamburg, Hans-Ulrich Klose, erklärte am Montag im "Deutschlandfunk": Eine Bevölkerungsdebatte hätte Deutschland "längst gebraucht". Eine Umwälzung, ja Revolution sei im Gange, und "wenn wir uns damit nicht beschäftigen, laufen wir angesichts der gegenwärtigen Entwicklungstrends in eine demographische Katastrophe hinein", befürchtet der Sozialdemokrat.
Bei der Kinderbetreuung ist Deutschland ein Entwicklungsland
Was tun, fragen sich Politiker und Wissenschaftler. "Es ist notwendig, nachhaltige Bevölkerungspolitik zu betreiben, um zu verhindern, dass die Bevölkerung langfristig immer schneller schrumpft", verlangte im vergangenen Jahr Regierungsberater Bert Rürup. Ein Drittel der Frauen des Jahrgangs 1965 bleiben kinderlos. Bei Akademikerinnen sind es gar 40 Prozent. Direkte Zahlungen des Staates für Kinder sind zwar in Deutschland hoch, aber es hapert bei der Betreuung, etwa von Kleinkindern. Da sei Deutschland "Entwicklungsland", konstatierte Rürup.
In anderen westeuropäischen Ländern ist aktive Bevölkerungspolitik seit Jahren kein Tabu - gleich ob linke oder konservative Regierungen an der Macht sind. Frankreich etwa kann mit rund 1,9 Kindern pro Frau auf eine der höchsten Geburtenraten blicken - dank guter Betreuungsmöglichkeiten für den Nachwuchs und finanzieller Unterstützung für Schwache und Alleinerziehende. In Schweden erhalten beide Elternteile im ersten Jahr der Erziehungszeit 80 Prozent ihres Lohnes. Deutschland hingegen beginnt erst langsam, sich einer aktiven Bevölkerungspolitik zuzuwenden.
Dabei hat es auf deutschem Boden vor noch nicht allzu langer Zeit genau das gegeben - unter staatssozialistischen Vorzeichen. In der DDR wurde ab den Siebzigern Bevölkerungspolitik betrieben, indem ein großzügiges Förderprogramm aufgelegt wurde: günstige Kredite für Eltern, Vorzugsbehandlung bei Wohnraumbeschaffung, Ausbau der Kinderbetreuung. Das Ergebnis war eine relativ hohe Geburtenrate (1,9 Kinder pro Frau), die nach der Vereinigung in den ostdeutschen Ländern jedoch drastisch absank und Mitte der Neunziger bei nur noch 0,8 lag. Heute liegt im Osten die Geburtenrate zwar bei 1,2 pro Frau - gegenüber 1,4 in Westdeutschland.
Keine jungen Leute, kein Absatzgebiet
Der Osten ist exemplarisch dafür, wie es im Westen in wenigen Jahren aussehen wird. Die Bevölkerungsabwanderung und immer weniger Nachwuchs führen zur Vergreisung in weiten Teilen des Ostens. Leerstand und damit Vernichtung von Immobilienkapital sind nur eine der Folgen. Ganze Landstriche sind bereits heute für Investoren unattraktiv. Keine jungen Leute, keine jungen Mitarbeiter, kein Absatzgebiet.
Die Politik versucht gegenzusteuern. Ende vergangener Woche erst verkündete Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer in seiner Regierungserklärung eine "nachhaltige Bevölkerungspolitik". Bestehende Leistungen will der ostdeutsche Christdemokrat in einem Gesetz zu einem Netzwerk Familie verbinden. Jungen Frauen müsse geholfen werden, Beruf und Familienbildung in Einklang zu bringen. Kinderbetreuungsplätze, bei denen Sachsen-Anhalt in der Bundesrepublik "einsam" führe, genügten nicht, so Böhmer.
In CDU und CSU wird der Begriff schon seit längerem offensiv in die Debatte eingebracht. "Wir brauchen auch eine aktive Bevölkerungspolitik", hatte jüngst CSU-Generalsekretär Markus Söder verkündet. "Wir müssen die Notwendigkeit einer Bevölkerungspolitik in konkrete Politik ummünzen", schlussfolgerte CSU-Chef Edmund Stoiber. In der Union wird noch über den richtigen Weg gestritten. Die CSU will Eltern mit Kindern bei der Rente durch Bonuszahlungen begünstigen, die CDU eine Besserstellung über Steuern regeln. Ob damit aber schon mehr Geburten erreicht werden ist fraglich. Denn auch viele Konservative wissen mittlerweile: Kinder werden geboren, wenn die Bedingungen für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie stimmen.
Furcht vor Mutterkreuz und Abkindern
Auf Seiten der rot-grünen Koalition hingegen tut man sich schwer mit dem Begriff "Bevölkerungspolitik". Für die Generation der heute 50- bis 60-jährigen, die im Kabinett, den Fraktionen und den beiden Parteien das Sagen haben, erinnert er an den Muff konservativer Familienpolitik. An alte Bilder von der "Frau an Heim und Herd", an die sklavische Bindung der Frau an ein Leben ohne berufliche Erfüllung.
Der Kanzler gab jüngst ein Beispiel dafür, wie seine Generation sich von den historischen Belastungen des Begriffes zu distanzieren versucht. In seiner letzten Regierungserklärung Mitte März erklärte er: "Gewiss, eine Bevölkerungspolitik, wie gerade wir in Deutschland sie in zwei Diktaturen erlebt haben - ich nenne nur die Stichworte; "Mutterkreuz" hieß es bei den Nazis und "Abkindern" in der früheren DDR -, ist das Gegenteil von einem Leben in Freiheit und Selbstbestimmung." Dann aber landete Gerhard Schröder im Bundestag doch noch indirekt beim Tabuthema. "Aber wir müssen aufpassen, dass unser Wunsch nach Freiheit uns nicht die Freude am Leben mit Kindern verdirbt", fügte er hinzu.
In der jüngeren Generation seiner eigenen Partei wird das Thema hingegen weitaus offener angegangen. In der neuesten Ausgabe der "Berliner Republik", einem Magazin, das von einer Gruppe von meist jüngeren "Netzwerkern" in der Bundestagsfraktion unterstützt wird, wirbt Thomas Kralinski für eine aktive Bevölkerungspolitik. Heute gehe es darum, wie sich Selbstverwirklichung mit Jobs und Kindern vereinbaren lasse, schreibt er, um dann zum Kern zu kommen: Es gehe auch um eine Debatte, "mit dem Ziel, die Zahl der Babys zu erhöhen".
Es ist wohl kein Zufall, dass der Autor - Jahrgang 1972 - aus jenem Teil des Landes kommt, wo der Bevölkerungsschwund erfahrbar ist. Kralinski ist Mitarbeiter der sächsischen SPD-Landtagsfraktion. Eine langfristig angelegte Strategie, so glaubt der Politologe, komme "um eine ehrliche Debatte zur Bevölkerungspolitik nicht herum".