Karlsruhe zur Wahlrechtsreform Murks mit Ansage

Schwarz-Gelb droht die nächste Schlappe in Karlsruhe: Gegen die Stimmen der Opposition hatte die Koalition ein neues Wahlrecht durchgedrückt, das ihr strategische Vorteile sichert. Die Verfassungsrichter haben bereits angedeutet, dass sie die Reform für Murks halten.
Verfassungsrichter in Karlsruhe: Schwarz-Gelb droht Schlappe bei Wahlrecht

Verfassungsrichter in Karlsruhe: Schwarz-Gelb droht Schlappe bei Wahlrecht

Foto: ALEX DOMANSKI/ REUTERS

Das Sein bestimmt das Bewusstsein, heißt es schon bei Karl Marx - deutsche Kanzler bilden da offenbar keine Ausnahme.

Als Gerhard Schröder noch Ministerpräsident in Niedersachsen war, klagte er beim Bundesverfassungsgericht gegen die Überhangmandate bei der Bundestagswahl, weil er ihre proporz-verzerrende Wirkung für verfassungswidrig hielt. Die Klage scheiterte 1997 denkbar knapp, mit vier zu vier Richterstimmen.

Als Schröder Kanzler wurde, und selbst von Überhangmandaten profitierte, tat er nichts mehr, sie abzuschaffen.

Nun kommt es an diesem Mittwoch in Karlsruhe zu einer Neuauflage der damaligen Entscheidung; und wieder, unter anderem, nach Klagen der Opposition.

Diesmal könnte dem Vorstoß mehr Erfolg beschieden sein: Das Urteil dürfte dazu führen, dass Überhangmandate künftig kaum noch zu rechtfertigen sind. Ausgerechnet jetzt, da die Berliner Republik schon vom Bann der Bundestagswahl im Herbst 2013 erfasst ist, werden die Verfassungsrichter damit wohl den Gesetzgeber auffordern, das Wahlrecht erneut und grundlegend zu reformieren.

Letzte Korrektur vor einem halben Jahr

Dabei liegt die letzte Korrektur erst gut ein halbes Jahr zurück: Vergangenen Dezember trat eine Neuregelung in Kraft, die einen vom Verfassungsgericht 2008 für verfassungswidrig erklärten Effekt der Überhangmandate beseitigen, die Zusatzsitze an sich aber erhalten sollte.

Dabei sind diese Bonusmandate keineswegs der Verdienst eines besonderen Erfolgs beim Wähler: Im Gegenteil, so der Politikwissenschafter Stephan Klecha, sie sind "Ausdruck der Schwäche der beiden Volksparteien in Verbindung mit einer regionalen Hochburgenbildung".

Überhangmandate entstehen in Bundesländern, in denen die stärkste Partei fast alle Direktmandate erobern kann, bei den Zweitstimmen aber relativ schwach abschneidet. Gerade in jüngerer Zeit haben diese Zusatzmandate mehrfach aus einer knappen eine deutliche Mehrheit gemacht - Kanzlerin Angela Merkel etwa hätte unmittelbar nach der Wahl nur eine Majorität von neun statt von 21 Stimmen gehabt.

Dieser Mechanismus hat noch einen weiteren, lange vernachlässigten Effekt, den das Bundesverfassungsgericht als "widersinnig und willkürlich" brandmarkte: In bestimmten Konstellationen können Überhangmandate dazu führen, dass eine Partei einen Sitz verliert, wenn sie in einem Land mehr Zweitstimmen erhält, und umgekehrt. Dieses "negative Stimmgewicht" sollte der Gesetzgeber beseitigen, so lautete der richterliche Auftrag.

Union will auf strategischen Vorteil nicht verzichten

Ganz leicht könnte man das negative Stimmgewicht abschaffen, indem man dafür sorgt, dass erst gar keine Überhangmandate entstehen. Doch die Union wollte auf ihren strategischen Vorteil nicht verzichten; so kam es dazu, dass Union und FDP im September 2011 gegen die Stimmen der Opposition eine vor allem ihren Interessen dienende Reform des Wahlrechts durchpaukten - ein bislang einmaliger Vorgang bei einer Wahlrechtsreform dieser Bedeutung.

Auf Klage von SPD, Grünen und der Initiative "Mehr Demokratie" haben nun die Verfassungsrichter den Reparaturversuch geprüft - wie es aussieht, mit negativem Ergebnis: Schon in der Verhandlung zeichnete sich ab, dass die Reform eher noch eine Verschlimmerung bedeutet - und dass eine echte Verbesserung im Grunde nur über eine Abschaffung der Überhangmandate zu erreichen wäre.

Denn auch im modifizierten Modell hat sich das Phänomen negativer Stimmeffekte in die Wahl-Algebra eingeschlichen. Das Argument von Bundesregierung und Bundestag, dass dies nun auf anderem Weg und zufälliger geschähe als bisher, hat die Richter in der Verhandlung offenkundig nicht überzeugt. Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle erklärte: Ob der Effekt zufällig sei oder nicht, "interessiert unseren Wähler nicht, der hinterher sagt: 'Das ist aber komisch gelaufen'".

Auch eine neue Sonderregel empfanden die Verfassungsrichter erkennbar als Murks: Diese hatten sich die Koalitionäre einfallen lassen, um die Liberalen zufriedenzustellen, die vom Kern der Reform eher benachteiligt wurden. Durch eine sogenannte Reststimmenverwertung sollten weitere Sitze generiert werden - diesmal vor allem zum Nutzen kleiner Parteien wie der FDP.

Schwarz-Gelb gelang es auf diese Weise, das Wahlrecht noch komplizierter zu machen, als es ohnehin schon war. Für die zusätzlichen Sitze, kritisierte der zuständige Berichterstatter Michael Gerhardt, würden Stimmen quasi zweimal verrechnet, ein "überschießendes Element", so der Richter, für das die Verteidiger der Regelung trotz bissiger Nachfragen wohl keine überzeugende Rechtfertigung liefern konnten.

Überhangmandate abschaffen? Im Prinzip kein Problem

Schon zur Vermeidung negativen Stimmgewichts hätte der Gesetzgeber wohl kaum noch eine andere Option, als die Entstehung von Überhangmandaten zu verhindern. Es könnte aber durchaus sein, dass Karlsruhe die Überhangmandate sogar bereits an sich für verfassungsrechtlich bedenklich erklärt.

Selbst die vier Richter, die 1997 Überhangmandate noch als verfassungskonform gebilligt hatten, verwiesen darauf, dass Überhangmandate nicht "regelmäßig in größerer Zahl anfallen" dürften. Mehrfach fragten nun Voßkuhle und Co. nach der Grenze, bis zu der ein Überhang noch "systemverträglich" sei. Offenbar wollen die Verfassungsrichter nun die "tatsächliche Entwicklung" seit 1997 berücksichtigen: Lag die Zahl der Überhangmandate 1961 noch bei fünf, pendelt sie seit 1994 - mit nur einer Ausnahme - zwischen 13 und 24. Und demnächst ist eher noch eine Zunahme zu erwarten, weil, wie etwa der Politologe Joachim Behnke in Karlsruhe sagte, "die Milieubindung der Parteien immer schwächer wird".

Dabei wäre es einfach, das Entstehen von Überhangmandaten zu verhindern:

  • Zum Beispiel durch Verrechnung zu viel erzielter Direktmandate mit Listensitzen derselben Partei aus anderen Bundesländern - so wie es ein Entwurf der Grünen vorsieht.
  • Oder: ganz ohne Landeslisten, stattdessen einer bundesweiten Liste pro Partei.

Nur bei Überhangmandaten der CSU wäre eine solche Verrechnung nicht möglich - und bei CDU und SPD ginge es natürlich auf Kosten anderer Landesverbände. CDU-Mann Günter Krings, geistiger Vater der jüngsten Wahlrechtsreform, warnte vor einer "regionalen Verödung", sollte die CDU für Überhangmandate in Sachsen und Baden-Württemberg auf Sitze in anderen Ländern verzichten müssen. 2009 erzielte die CDU genauso viele Direktmandate, wie ihr insgesamt Sitze zustanden. Bei bundesweiter Verrechnung wäre damit kein einziger CDU-Listenplatz zum Zuge gekommen - selbst Sozialministerin Ursula von der Leyen oder Bundestagspräsident Norbert Lammert wären nicht ins Parlament eingezogen.

Dennoch gäbe es auch dafür eine Lösung, die in Karlsruhe vom parlamentarischen Geschäftsführer der SPD, Thomas Oppermann ins Spiel gebracht wurde. Man könnte "ein natürliches Auffangbecken für Überhangmandate" schaffen, so Oppermann, indem man bei der Verteilung von Wahlkreis- und Listenplätzen eine "Unwucht" erzeugt: Das aktuelle Verhältnis von 50:50 könnte man nun zugunsten der Listenmandate verschieben - und damit, je nach Ausmaß, die Überhangmandate reduzieren oder ganz beseitigen. Kombiniert mit einer bundesweiten Verrechnung würde schon eine kleine Verschiebung Überhangmandate verhindern und auch der CDU trotzdem sichere Listenplätze bescheren.

Reformideen? Nicht von der amtierenden Regierung

Eine solche Reform wäre sogar kurzfristig möglich, indem man das Parlament vergrößert und die zusätzlichen Sitze den Listen zuschreibt. Oder man belässt die jetzige Parlamentsgröße und reduziert künftig die Zahl der Wahlkreise durch einen neuen Zuschnitt.

Zwar würde damit der Einfluss der Bürger auf die personelle Zusammensetzung des Bundestages schwinden - aber auch dafür hat Oppermann eine Lösung parat: mit sogenannten flexiblen Listen, ähnlich wie sie in Bayern bei der Landtagswahl üblich sind.

Dabei können die Wähler auch mit der Zweitstimme unter mehreren Bewerbern derselben Partei einen auswählen - und damit die Wahlchance von Kandidaten erhöhen, die bei der parteiinternen Aufstellung das Nachsehen hatten.

Was für ein schönes, bürgernahes Wahlrecht könnte das sein. Der einzige Nachteil: Solche Ideen kommen, bislang jedenfalls, Politikern immer nur in der Opposition.

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