
Ukraine-Krise: Die Nacht von Minsk
Nach dem Abkommen von Minsk Wo jetzt die größten Gefahren lauern
Berlin/Minsk - Kanzlerin Angela Merkel spricht von einem "Hoffnungsschimmer", ihr Außenminister Frank-Walter Steinmeier davon, dass die Vereinbarung von Minsk "keine umfassende Lösung, und schon gar kein Durchbruch" sei.
Die CDU-Chefin und der Sozialdemokrat sind vorsichtig: Sie wissen nach dem bisherigen Verlauf des Krieges in der Ukraine, dass Vereinbarungen von beiden Seiten schon häufiger gebrochen wurden. Die Situation bleibt angespannt. Bis zum Eintreten der Waffenruhe, die ab der Nacht von Samstag auf Sonntag - Punkt Mitternacht - gelten soll, kann sich die Lage noch weiter verschärfen. Und damit letztlich alle Anstrengungen der rund 16-stündigen Verhandlungen wieder zunichtemachen.
1. Was jetzt ansteht
In dem 13-Punkte-Papier, das die Mitglieder der Ukraine-Kontaktgruppe (OSZE, Ukraine, Russland) und die Separatisten unterzeichnet haben, findet sich eine Roadmap für ein Ende der Kämpfe und zur Bildung einer neuen, föderalen Ukraine. Manches wurde bereits im September vereinbart und nun bekräftigt und ergänzt. Das Ziel heißt schrittweise Normalisierung.
- Neu hinzugekommen ist die Einrichtung einer Pufferzone von mindestens 50 Kilometern Breite, aus denen schwere Waffen abgezogen werden sollen.
- Die ukrainischen Truppen sollen sich von der momentanen Demarkationslinie ("actual line of contact") zurückziehen - damit müsste sich Kiew der derzeitigen militärischen Lage beugen, bei der die Separatisten erhebliche Geländegewinne erzielt haben. Der Abzug schwerer Waffen soll spätestens am zweiten Tag der Waffenruhe beginnen und innerhalb von 14 Tagen beendet sein.
- Die Überwachung der Waffenruhe und des darauf folgenden Waffenstillstands erfolgt durch die Organisation für Europäische Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) mit Unterstützung der Ukraine-Kontaktgruppe.
- Ein Kernelement ist die Frage einer weitestgehenden Autonomie des mehrheitlich von russischsprachigen Ukrainern bewohnten Osten des Landes. Auch wenn es mittlerweile sogenannte Volksrepubliken in Luhansk und Donezk gibt, wird die territoriale Integrität der Ukraine im Dokument grundsätzlich nicht infrage gestellt. Dennoch wird sie föderaler. "Ohne Verzögerung", aber "spätestens 30 Tage nach Unterzeichnung des Dokuments" soll das ukrainische Parlament eine Resolution verabschieden, in der die jeweiligen Gebiete gekennzeichnet werden, in denen die Lokalwahlen in Teilen der Bezirke Donezk und Luhansk stattfinden sollen.
Moskau hat sich dabei indirekt zum Wächter des Vertrags erhoben: Erst nach Lokalwahlen in den Gebieten von Luhansk und Donezk und einer Verfassungsreform zum Jahresende 2015 soll die Ukraine wieder die vollständige Kontrolle über die Außengrenze zu Russland übernehmen.
- Ein "Schlüsselelement" in der Verfassungsreform sei die "Dezentralisierung", bei der die "Besonderheiten" bestimmter Teile in den Bezirken Luhansk und Donezk zu berücksichtigen seien. Was das heißen soll, wird in Fußnoten zum Vertrag festgehalten: Das Recht zur "sprachlichen Selbstbestimmung". Auch soll es auf lokaler Ebene eine sogenannte Volkspolizei ("peoples police") geben - offenbar als Auffangbecken für Separatisten. Dazu soll "grenzüberschreitende" Zusammenarbeit mit Russland ermöglicht werden. Kurzum: viele Klauseln, die noch für viel Streit sorgen könnten.
Wenn all dies eingehalten würde, könnten EU und USA auch ihr Verhältnis zu Russland wieder normalisieren, die Sanktionen würden aufgehoben.
2. Was schiefgehen kann
Wenn die Kämpfe in der Ostukraine auch in der Nacht zum Sonntag weitergehen, ist der Minsker Krisen-Gipfel nutzlos gewesen. Einiges spricht dafür: Auf beiden Seiten - also in Kiews Einheiten und bei den Separatisten - gibt es Kämpfer, die nach ihren eigenen Regeln agieren.

Sollte die Waffenruhe verletzt werden, dürfte die militärische Auseinandersetzung wohl auf breiter Front wieder aufflammen. Alle vereinbarten Punkte wären dann wohl hinfällig.
Die Reaktion des Westens? Sicherlich würden Kanzlerin Merkel und Frankreichs Präsident François Hollande erneut versuchen, zu verhandeln. Die deutsche Regierungschefin hat immer wieder darauf hingewiesen, dass es aus ihrer Sicht keinen anderen Weg zur Lösung des Konflikts gibt - auch wenn das langwierig und sehr mühsam sein könnte.
Neue Sanktionen wären dann zwingend - und Waffenlieferungen an die Ukraine wohl kaum noch zu vermeiden: Sollten sich Merkel und Hollande entsprechenden Forderungen aus den USA und einem Teil Europas nicht widersetzen können, wäre man endgültig in der Eskalationsspirale, vor der sich viele so fürchten.
3. Wie es gehen könnte
Sollten Kiew und Moskau wirklich ein Interesse an der Umsetzung der Vereinbarungen haben und sie alles dafür tun, scheint eine Wahrung der Waffenruhe ab Samstag 0 Uhr nicht ausgeschlossen zu sein. Die frei operierenden Kämpfer beider Seiten müssten dafür allerdings ruhiggestellt werden - also jegliche logistische Unterstützung für sie müsste eingestellt werden.
Und die weiteren zentralen Punkte des neuen Minsker Abkommens? Dass Kiews Parlament wirklich innerhalb eines Monats Beschlüsse zum Status der selbsternannten Volksrepubliken im Osten des Landes fasst, ist wenig wahrscheinlich, erst recht eine entsprechende Verfassungsänderung bis Ende des Jahres. Auch der Rückzug aller russischen Waffen vom ukrainischen Staatsgebiet erscheint wenig realistisch.
Stattdessen dürfte vieles neu verhandelt werden müssen. Selbst wenn dies von kleineren militärischen Scharmützeln begleitet wäre, wäre schon einiges erreicht.