SPIEGEL-Talk über Ukrainekrieg »Der Kanzler würde Europa sprengen«
Markus Feldenkirchen, DER SPIEGEL:
»›Wir sind nahezu blank‹, das sagte der Inspekteur der Bundeswehr schon zu Beginn des Krieges über den Zustand der Armee. Wie sieht es denn inzwischen aus, Herr Domröse: Wenn damals blank, dann heute splitterfasernackt?«
Hans-Lothar Domröse, Ex-Nato-General:
»Wenn es so stimmt, dass es damals blank war, dann stimmt es wohl, dass wir heute zumindest nicht wesentlich besser aufgestellt sind. Da gibt es viele Gründe, aber das zeigt offensichtlich, dass einer der Schwachpunkte im Hause das Beschaffungswesen im pauschalen Sinne zu sein scheint. Und wenn der Inspekteur des Heeres im Februar sagt, wir sind blank, dann beziehe ich das auf die Abgabe der Marder, dann ist das sicherlich ein Problem, wenn wir Fahrzeuge haben, die nicht einsatzbereit sind. Und das können wir uns nicht leisten angesichts dieses Krieges. Und das kann sich eigentlich eine Armee grundsätzlich nicht leisten, nur noch Schrott auf dem Hof zu haben. Und das kann ja nur besser werden.«
Agnieszka Brugger, Vize-Fraktionsvorsitzende Bündnis 90/Die Grünen:
»Also ich finde ehrlich gesagt, dass wir gar nicht so viel Zeit gebraucht haben, um das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro auf den Weg zu bringen und auch die ersten Beschaffungsentscheidungen dann kurz vor Jahreswechsel wirklich in zweistelliger Milliardenhöhe in die Wege zu leiten. Aber es geht eben nun mal nicht ganz so schnell. Es sind viele Versäumnisse aufzuarbeiten. Die 100 Milliarden Euro waren ein großer und relevanter Schritt und wir haben auch so Sachen gemacht, wunderbares Wort, wie das Bundeswehr-Beschaffungsbeschleunigungsgesetz. Auch das wird hoffentlich im nächsten Jahr mit dem neuen Minister Früchte tragen, sodass es schneller vorangeht. Aber worauf ich hinauswollte, ist, dass wir natürlich auch über die Abgaben an der Ukraine, die Probleme bei der Bundeswehr kurzfristig eher vergrößern. Umso schneller müssen wir jetzt da in die Puschen kommen.«
Hans-Lothar Domröse, Ex-Nato-General:
»Die Ministerin Lambrecht hat gesagt, sie will nur kleine Reparaturen machen, keinen großen Plan. Das reicht nicht. Das ist wie ein alter Bauernhof, 100-jährig, wunderschön, den Sie erben, oder wie auch immer. Dann reicht es nicht, wenn Sie nur eine Toilette auswechseln. Sie müssen die ganzen Leitungen wechseln. Und so ist das bei der Bundeswehr. Wir brauchen eine doppelte Strukturreform, die erste im Ministerium, weil es völlig dysfunktional aufgebaut ist aus meiner Sicht, wenn ich das sagen darf. Und dann die Streitkräfte-Reform, wo wir jetzt mit sechs Teilbereichen dabei sind. Also früher hatte man Heer, Luftwaffe, Marine, aber jetzt haben wir sechs und dazu noch zwei Kommandos, also Potsdam- und Julius-Leber-Kaserne. Das ist eine Koordinierung, das ist ja wahnsinnig. Das muss alles gestreamlined werden und ordentlich gemacht werden. Da kann ich ja nur hoffen, dass der Minister Pistorius das hinkriegt und anpackt.«
Agnieszka Brugger, Vize-Fraktionsvorsitzende Bündnis 90/Die Grünen:
»Wobei ich auch nicht zu einer großen Strukturreform raten würde. Ich glaube, damit demoralisiert man die Truppe noch mehr, wenn man jetzt mal wieder einen 2-jährigen Prozess startet, sondern die Probleme sind doch bekannt. Sie liegen auf der Hand, Sie haben einige genannt. Das Beschaffungswesen haben wir auch schon angesprochen. Da muss man jetzt einfach mal anpacken.«
Roderich Kiesewetter, CDU-Außenpolitiker:
»Es kommt aber noch eines dazu: Die 100 Milliarden reichen ja nicht aus, die sind durch Inflation schon um die 80.«
Markus Feldenkirchen, DER SPIEGEL:
»Wie viel braucht es mehr?«
Roderich Kiesewetter, CDU-Außenpolitiker:
»Die Frau Högl hat das sehr klar beschrieben, es sind zwischen 250 und 300 Milliarden. Im Grunde genommen haben wir, wir waren ja in Regierungsverantwortung über viele Jahre auch mit einem Vizekanzler Scholz, wir haben uns nie durchgesetzt, das 2-Prozent- Ziel zu erreichen. Und der Vizekanzler hat seinerzeit ein Veto beim 2-Prozent-Ziel eingeführt. Und die Folge ist, dass eben bei der Truppe das nicht ankam, was notwendig war. Und die Konsequenzen spüren wir jetzt.«
Markus Feldenkirchen, DER SPIEGEL:
»Wenn das so stimmt, Herr Kiesewetter, wie schlecht ist dann als Unionspolitiker hier Ihr Gewissen?«
Roderich Kiesewetter, CDU-Außenpolitiker:
»Der Fehler lag bei zu Guttenberg. De Maizière hat versucht, die Fehler einzudämmen. Aber zu Guttenberg hat ohne mit der Wimper zu zucken einer Bitte der Kanzlerin, wie soll ich sagen, entsprochen und knapp 10 Milliarden Euro eingespart, die Wehrpflicht aufgegeben.«
Markus Feldenkirchen, DER SPIEGEL:
»Haben Sie eine Erklärung, warum Angela Merkel das damals so falsch eingeschätzt hat?«
Roderich Kiesewetter, CDU-Außenpolitiker:
»Ich glaube, sie hatte kein großes Interesse daran, sich tiefer auseinanderzusetzen. Ihr war es wichtiger, die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zusammenzuhalten. Sie war jemand, die mehr über gesellschaftlichen Zusammenhalt nachdachte als über die potenziellen Bedrohungen. Wir müssen uns neu aufstellen und auch Lehren aus der Ära Merkel ziehen, die auch ihre Verdienste hat.«
Markus Feldenkirchen, DER SPIEGEL:
»Und sollten nun auch die vieldiskutierten Leopard 2 Panzer an die Ukraine geliefert werden?«
Agnieszka Brugger, Vize-Fraktionsvorsitzende Bündnis 90/Die Grünen:
»Aus meiner Sicht ist das die folgerichtige Entscheidung. Man kann irgendwie auch gar nicht inhaltlich begründen, warum man den Marder jetzt liefern soll und den Leopard nicht. Herr Domröse hat ja auch gesagt, dass diese beiden Systeme im Verbund...«
Hans-Lothar Domröse, Ex-Nato-General:
»Absolut.«
Agnieszka Brugger, Vize-Fraktionsvorsitzende Bündnis 90/Die Grünen:
»...wirken. Und wenn wir uns anschauen, was derzeit in Russland für Vorbereitungen für eine großangelegte Offensive laufen, sowohl beim Thema Material als auch beim Thema Personal, braucht die Ukraine jede Unterstützung, um Gebiete zu befreien, um Truppen sicher zu transportieren und um die eigene Bevölkerung zu schützen.«
Hans-Lothar Domröse, Ex-Nato-General:
»Ich will nochmal hinzufügen: Es kann ja nicht sein, dass wir den Leopard produzieren und damit ein gewisses Vorkaufsrecht haben, was die Lieferung angeht. Die Finnen wollen liefern, die Polen wollen liefern, die Spanier wollen liefern. Sollen wir etwa Nein sagen? Das ist die erste Frage. Denn der Kanzler würde ja Europa sprengen, wenn er sagt die, die in der europäischen Leopard-Familie sind, das sind 13 Nationen, die wollen liefern, ich hatte drei genannt, aber ich Deutscher sage Nein dazu. Das ist ja undenkbar. Also wenn es nur halbwegs vernünftig läuft, sagt er: Die Genehmigung ersten, zweitens erteilt. Und drittens: Ich pack noch einen Zehner dazu. Wir müssen sehen, wenn Sie ein Land verteidigen wollen und müssen, in diesem Fall ja müssen, dann müssen Sie dem Angegriffenen alles an die Hand liefern, damit er sich erwehren kann. Ich kann nicht ausschließen, dass Präsident Selenskyj nach Moskau ginge, aber ich halte das für sehr unwahrscheinlich. Das halte ich für eine theoretische Debatte. Er ist ja überfallen worden. Die Zerstörungen sehen wir jede Tagesschau über das Leid, 12 Millionen Menschen auf der Flucht. Er muss sich erwehren können. Und die Schießerei in Bachmut und Soledar zeigt ja, wie blutig das ist. Und wir wollen ja das Blutvergießen stoppen. Also helfen, zu stoppen, damit die Ukraine das selbst machen kann. Wir wollen ja selbst nicht Kriegspartei werden. Wir wollen den sehr viel liefern, sodass sie eine reelle Chance haben, ihr Land zu verteidigen im Sinne der Rückeroberung. Also das ist gar keine Frage. Nur egal, was wir liefern, um die ukrainische Armee in einen Zustand zu bringen, dass sie die Russen zur Kapitulation zwingen kann, das möchte ich mal sehen vom Handwerklichen, wie das geht.«
Markus Feldenkirchen, DER SPIEGEL:
»Daran glauben Sie kein bisschen?«
Hans-Lothar Domröse, Ex-Nato-General:
»Nein. In der Ukraine kämpfen die Ukrainer alleine mit westlichen Waffen, aber trotzdem alleine gegen eine Weltmacht, die stümperhaft militärisch geführt wird, aber dort so viel nachschieben kann. Wir sprechen jetzt von 200.000 Rekruten, die in diesem Moment nach vorne kommen, weil sie teilmobil gemacht worden sind. Er kann bis zu 25 Millionen Menschen mobilisieren. Und die zu schlagen, im Sinne von zu vernichten, halte ich für technisch unmöglich aus ukrainischer Sicht.«
Markus Feldenkirchen, DER SPIEGEL:
»Was glauben Sie denn dann, wie der weitere Verlauf ist?«
Hans-Lothar Domröse, Ex-Nato-General:
»Ich glaube, dass wir jetzt eine fürchterlich blutige Frühjahrsoffensive sehen, wo beide Seiten noch einmal versuchen, militärisch einen Durchbruch im Sinne des Erfolges zu haben. Das hieße für die Russen, aus ihrer strategischen Verteidigung dieser vier annektierten Gebiete noch hier und da Ortsgewinne zu machen, aber zu halten. Und die Ukraine wird versuchen, noch mal mit letzter Kraft, mit großer Kraft den ein oder anderen Abschnitt zurückzuerobern, sodass dann beide Seiten sehen: Wir kommen nicht weiter, wir produzieren nur Blut, Zerstörung und sonst was. Und dann in Verhandlungen zu gehen, weil es bringt ja nichts, sich zu erschießen, wenn man nicht weiterkommt.«
Roderich Kiesewetter, CDU-Außenpolitiker:
»Ich teile nicht die Auffassung von Herrn Domröse. Ich sehe sehr klar, wie Russland scheitert, wie die Sanktionen wirken mit über 100.000 Opfern. Dass sie jetzt von Bosch-/Siemens- Hausgeräten die Chips ausbauen und in ihre Militärfahrzeuge einbauen. Ich sehe, dass sie 20.000 Straftäter einsetzen. Ich sehe, dass sie ungeheure Verluste haben und dass Putin die Zeitkarte spielt. Ich glaube, wir müssen geduldig sein und der Ukraine mehr liefern. Deswegen noch mal der Gedanke auch aus der Luft und in anderen Bereichen. Wir werden dieses Jahr ein Ende sehen, da bin ich fest überzeugt. Aber wir müssen strategisch denken. Und ich glaube, dass Russland auf der Verliererseite ist. Russland muss verlieren lernen, indem es sich zurückzieht.«