Tausende bei #Unteilbar-Demo in Berlin Ziviler Antiterroreinsatz
Der Bebelplatz an einem sonnigen Nachmittag, es herrscht fast perfekte Stille. Wer Berlin-Mitte kennt, weiß, dass das eigentlich unmöglich ist. Doch am Sonntagnachmittag gelingt es, während der Schweigeminute zum Gedenken an die Opfer des Rechtsterrorismus, zuletzt in Halle.
Tausende Menschen sind gekommen, um vier Tage nach dem Anschlag mit zwei Toten ihre Solidarität mit den Opfern rechtsextremer Gewalt unter dem Motto #KeinFussbreit auszudrücken. Die Polizei hat einen Abschnitt des Boulevards Unter den Linden gesperrt, sodass die Menschen dicht an dicht vom Bebelplatz bis vor die Pforten der Humboldt-Universität stehen. Dort haben Mitglieder des Bündnisses #Unteilbar eine improvisierte Bühne im Laderaum eines LKW aufgebaut.
"Das, was wir erleben, ist eine Katastrophe und kein Alarmzeichen", sagt Unteilbar-Sprecher Ario Mirzaie. Er spielt auf eine Formulierung von CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer an, die gesagt hatte, der antisemitische Anschlag von Halle sei "ein Alarmzeichen", das niemanden unberührt lassen könne.
"Der Polizeiwagen gehört für mich zur Synagoge wie der Davidstern auf dem Dach"
Den Menschen, die sich am Sonntag auf dem Bebelplatz versammelt haben, geht das nicht weit genug. Auf der Bühne fordern Aktivisten und Vertreter der jüdischen Gemeinde ein konsequenteres Vorgehen der Sicherheitsbehörden, mehr Schutz für jüdische Einrichtungen und vor allem mehr Zivilcourage.

#Unteilbar-Demo in Berlin
Foto: REUTERS/Hannibal HanschkeJeder Einzelne habe die Verantwortung, gegen Antisemitismus, Sexismus, Homophobie und Ausländerfeindlichkeit den Mund aufzumachen, sagt Mischa Ushakov, Präsident der Jüdischen Studierendenunion: "Wir müssen im Alltag zeigen, dass wir mehr sind. Es reicht nicht, auf Demos zu gehen und nur mit Gleichgesinnten zu kuscheln - auch wenn ich euch dafür sehr dankbar bin."
Seit er klein war, sei er Panzerglas, Maschinengewehre und Sicherheitsschleusen gewohnt, sagt Ushakov. "Der Polizeiwagen gehört für mich zur Synagoge wie der Davidstern auf dem Dach." Doch nach dem Anschlag von Halle habe er erstmals wirklich gewusst, "wovor die Sicherheitsleute mich schützen."
Zwei junge US-Amerikanerinnen jüdischen Glaubens rufen von der Bühne aus zum Dialog auf: "Sprecht mit den Leuten, mit denen das Gespräch schwierig ist. Denn sie sind diejenigen, die uns Schaden zufügen." Sie fordern, rassistische und fremdenfeindliche Familienmitglieder, Mitmenschen oder Politiker mit ihren Vorurteilen zu konfrontieren.
"Ein fürchterlicher Preis für die Bräsigkeit der Polizei"
Reinhard Borgmann vom Jüdischen Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus sagt, die beiden Todesopfer von Halle seien "ein fürchterlicher Preis für die Bräsigkeit der Polizei und die mangelnde Sensibilität für die Gefahren des Antisemitismus".
Natürlich könne nicht vor jeder Synagoge und vor jeder jüdischen Schule jederzeit eine Antiterroreinheit der Polizei stehen. "Aber was ist das für eine Gesellschaft, in der man solche Überlegungen überhaupt anstellen muss?", fragt Borgmann und erntet großen Applaus.
Immer wieder wird am Sonntagnachmittag an die Taten des NSU und das Versagen der Sicherheitsbehörden erinnert, an eine jahrzehntelange Tradition rechtsextremer Netzwerke und Gewalttaten. "Die Bestürzung ist angemessen, die Überraschung aber nicht", sagt der 28-jährige Student Christian.
Er hat selbst in Halle gelebt und kann nicht verstehen, warum der Rechtsterrorismus erst seit Kurzem zu einem größeren Thema gemacht wird. Man müsse endlich einmal "ehrlich hingucken", um die rechten Strukturen auch in Polizei und Justiz vollständig aufzudecken.
"Die Kontrolle des Internets muss eindeutig gestärkt werden"
Auch die Art und Weise des Anschlags in Halle, offenkundig vom Attentat im neuseeländischen Christchurch inspiriert, bereitet den Menschen Sorgen. "Die Kontrolle des Internets muss eindeutig gestärkt werden. In dieser Parallelwelt, die sich da auftut, muss aufgeräumt werden", fordert die 70-jährige Berlinerin Karin Siewert. Andere wiederum haben kein Verständnis dafür, dass Bundesinnenminister Horst Seehofer nun "die Gamerszene" verstärkt beobachten will.
Die Versammlung am Sonntagnachmittag reicht bei Weitem nicht an die Dimensionen der letztjährigen #Unteilbar-Demonstration heran. Mit der Großdemo von 2018 hat sie aber gemein, dass sie keineswegs monothematisch ist.
Der Linken-Politiker Ferat Kocak aus Berlin-Neukölln etwa, der Anfang 2018 selbst Ziel eines rechtsextremen Brandanschlags war, spricht auch Ungleichheiten auf dem Immobilienmarkt, die Umweltpolitik und die Seenotrettung an. Auf dem Protestschild einer "Oma gegen rechts" klebt ein Sticker von "Fridays for Future", andere Teilnehmer schwenken kapitalismuskritische Transparente.
„Wenn wir nicht eine Gesellschaft des Miteinanders sind, dann sind wir gar keine Gesellschaft“, sagt @igorpianist bei der #KeinFussbreit-Demo in #Berlin. #Halle pic.twitter.com/BoKe8zFmxw
— Marius Mestermann (@DerMestermann) October 13, 2019
Als der Protestzug an der Synagoge angekommen ist, steht dort der Pianist Igor Levit auf der improvisierten Bühne. "Wenn wir eine Aufgabe haben, dann ist es zu zeigen: Es gibt in diesem Land eine lebendige Gegenerzählung", sagt Levit. Es gebe ungeheuer viele Menschen, die das Miteinander lebten. "Denn wenn wir nicht eine Gesellschaft des Miteinanders sind, sind wir gar keine Gesellschaft."