

Die Lage am Morgen Trumps schändliches Finale

Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute beschäftigen wir uns ausnahmslos mit den verstörenden Ereignissen in Washington, mit der Verantwortung Donald Trumps – und der Frage, ob es Hoffnung gibt auf ein besseres Amerika.
Trump, der Aufrührer
Wenige Tage vor Weihnachten rief Donald Trump seine Anhänger via Twitter auf, am 6. Januar zum »big protest« nach Washington, D.C., zu kommen: »Be there, will be wild!«, schrieb er.
Und es wurde wild.
Eine Truppe fanatischer Trump-Fans stürmt das Kapitol, den Sitz des US-Kongresses, der an diesem Tag den Wahlsieg Joe Bidens offiziell und endgültig zertifizieren soll. Doch die Abgeordneten und Senatoren müssen fliehen, es herrschen anarchische Zustände, Tränengas wabert durch Gänge und Säle, durchgedrehte QAnon-Verschwörungsgläubige besetzen die Senatskammer, andere dringen in das Büro der Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, ein, posieren für Fotos mit den Füßen auf dem Schreibtisch, Sicherheitsleute verbarrikadieren sich mit gezückter Waffe, irgendwo fallen Schüsse, eine Frau stirbt später an ihren schweren Verletzungen, draußen sterben drei weitere Personen. Journalisten werden attackiert und verjagt, ihre Ausrüstung zerstört.
Es sind unfassbare Szenen.
Sehen Sie hier im Video, wie Washington-Korrespondent Roland Nelles die Ereignisse erlebte.
Hier können Sie eine Reportage von Roland Nelles über die bürgerkriegsähnlichen Zustände lesen.
Trump lässt die Eindringlinge über eine Videobotschaft wissen: »We love you. You’re very special.« Später schiebt er per Tweet hinterher: »Remember this day forever!«
In der Tat, an diesen Tag wird sich ganz Amerika für immer erinnern. Die verstörenden Bilder werden sich einbrennen in das kollektive Gedächtnis der Vereinigten Staaten – als Tag der Schande, an dem die Institutionen der zweitältesten Demokratie der Welt von einem wütenden Mob angegriffen und verächtlich gemacht wurden. Losgeschickt und angestachelt vom noch amtierenden Präsidenten, der dem selbst entzündeten Feuer erst einmal im Fernsehen zusah.
Auf Worte folgen Taten. Trump hat die Gewalt entfesselt, er hat vier Jahre lang Lügen verbreitet und Hass gesät, nun hat er kurz vor seinem politischen Ende noch einmal die Ernte eingefahren – für ein schändliches Finale. Ganz gleich, ob er einsieht oder nicht, dass er die Verantwortung dafür trägt, dem Aufrührer Trump hat gefallen, was er gesehen hat.
Selbst in der Stunde des Chaos zündelte er weiter, wiederholte seine erfundenen Wahlbetrugsvorwürfe. Soziale Medien löschten seine Beiträge, Twitter sperrte schließlich gar den Präsidenten-Account für zwölf Stunden – es ist ein drastischer Schritt, aber er kommt viel zu spät.
Spät reagierte auch die Polizei in Washington. Dass sie offensichtlich nicht vorbereitet war, ist unverzeihlich. Die Vorzeichen waren klar und eindeutig, eine gewaltsame Eskalation zumindest nicht ausgeschlossen. Trotzdem konnten die Randalierer nicht nur in den Kongress gelangen, sondern dort auch augenscheinlich ziemlich gelassen ihr Unwesen treiben. Erst nach rund vier Stunden meldeten die Sicherheitskräfte, das Kapitol sei wieder sicher. In Videos ist zu sehen, wie zahlreiche Eindringlinge das Gebäude völlig unbehelligt verlassen – auch das wird aufzuarbeiten sein.
Inmitten des Chaos von Washington platzte die Nachricht, dass bei den Senatsstichwahlen im US-Bundesstaat Georgia auch der zweite demokratische Kandidat gegen den republikanischen Amtsinhaber gewonnen hat. Der Erfolg sichert den Demokraten die faktische Mehrheit im Senat und besiegelt die komplette Niederlage Trumps.
Ein Lichtblick in düsteren Stunden für die amerikanische Demokratie. Aber verbindet sich damit auch die Hoffnung auf ein besseres Amerika?
Die symbolische Besetzung des Kapitols hat gezeigt, wozu Trumps Fußtruppen fähig sind, wenn er sie losschickt. Auf Versöhnung sind sie nicht aus, auch wenn ihr Präsident bald nicht mehr im Amt ist. Mancher Republikaner, der bis zur letzten Minute loyal an der Seite des Präsidenten stand, wird sich nun womöglich abwenden. »Proud Boys«, QAnon-Anhänger und andere Extremisten dagegen werden sich nach diesem 6. Januar ermuntert fühlen, Trumps Erbe fortzuführen.
Die Angst ist groß, dass dies nicht das Ende einer schlimmen Zeit markiert, sondern womöglich den Anfang von etwas noch Schlimmeren. Wer die Warnungen vor einem Bürgerkrieg bisher übertrieben fand, kommt nach diesem Tag ins Nachdenken.
Joe Biden fand am Mittwoch klare, sehr amerikanische Worte, noch bevor der Präsident überhaupt reagiert hatte. Er beschwor die Wiederherstellung von Demokratie, Anstand, Ehre und Respekt in den kommenden vier Jahren. Pathos aber wird nicht reichen, um die USA wieder zu einen. Man kann Joe Biden und seiner Vizepräsidentin Kamala Harris nur viel Kraft und Glück wünschen bei dem Versuch, das Land wieder zur Ruhe zu bringen.
Die jüngsten Meldungen aus der Nacht
Curevac und Bayer planen offenbar Impfstoff-Allianz: Das Tübinger Unternehmen Curevac und der Chemiekonzern Bayer wollen laut einem Medienbericht eine »nationale Impfallianz« gründen. Das Ziel: Bis zum Sommer sollen in Deutschland alle geimpft werden, die es wollen
ARD und ZDF vergrößern Angebot an Lerninhalten: Nach der BBC will auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland seine Schulsendungen ausbauen. So wird der Bildungskanal ARD-alpha sein Programm »Schule daheim« werktags drei Stunden bringen
Bewaffneter Mann wird bei Polizeieinsatz getroffen und stirbt: In einem Mehrfamilienhaus in Mülheim waren »laute Knallgeräusche« zu hören. Als die Polizei anrückte, traf sie einen 65-Jährigen mit einer Langwaffe im Hausflur an. Dann kam es zum Schusswaffengebrauch
Die SPIEGEL+-Empfehlungen für heute
Brüssels falsche Rezepte: Die wahren Gründe des Impf-Fiaskos
Trister Alltag: Das Leben – eine traurige, schlappe Corona-Girlande
Firmengründer Hugo Stinnes um 1900: Der »Zar des neuen Deutschland«
Kommen Sie gut in den Tag.
Herzlich
Ihr Philipp Wittrock