Streit über Verfassungsschutz "Bedenkliches Verständnis vom Rechtsstaat"

Verfassungsschutz in Köln
Foto: Oliver Berg/ dpaIn deutschen Parlamenten sitzen wohl so viele Rechtsradikale wie nie zuvor in der Nachkriegsgeschichte. Auf den Straßen demonstrieren unter anderem Verschwörungserzähler und Sonderlinge gegen die Corona-Maßnahmen. In Bayern wütet ein Mann in türkischen Geschäften.
Gerade in diesen Wochen gibt es wieder besonders gute Gründe, die Verfassung zu schützen. Könnte man meinen.
Manche aber wollen jene, die dafür verantwortlich sind, am liebsten loswerden.
Die Jugendverbände von SPD, Grünen und Linken glauben nicht daran, dass der Verfassungsschutz seine Sache gut macht. In einem gemeinsamen Schreiben erheben sie schwere Vorwürfe gegen die Behörde.
"Der Verfassungsschutz verwechselt wieder einmal Antikapitalismus mit Demokratiefeindlichkeit", erklären Jusos, Grüne Jugend und die linke Organisation Solid. "Dieser Gleichsetzung erteilen wir eine klare Absage."
Der Verfassungsschutz sei nicht in der Lage, die notwendige Arbeit im Kampf gegen rechte Terrorzellen aufzunehmen. "Er muss abgeschafft werden."
Kritik an "Ende Gelände"
Anlass für die Frontalattacke gegen den Inlandsgeheimdienst: Die Berliner Landesbehörde hatte am Dienstag ihren Jahresbericht für 2019 vorgestellt - und darin auch die Hauptstadtgruppe der Klimaaktivisten von "Ende Gelände" aufgeführt.
Das Bündnis engagiert sich gegen den Braunkohleabbau - und schreckt auch vor rabiaten Protestmethoden nicht zurück. Nach Ansicht der Verfassungsschützer nehmen die Aktivisten Gewalt "mindestens billigend in Kauf".
Für die Polit-Jugendorganisationen aus dem linken Lager ist das ein Affront. "Wer rechten Terror und den Einsatz für Klimagerechtigkeit als zwei 'Extreme' einer ansonsten vorbildlich gesinnten Mitte gleichsetzt, kann nicht in der Lage sein, faschistische Tendenzen angemessen zu bekämpfen."
Risse im Mitte-links-Lager
Die Maximalforderung nach - wohlgemerkt bundesweiter - Abschaffung des Inlandsgeheimdienstes löst in Teilen der Mutterparteien heftige Empörung aus. Der Umgang mit den Verfassungsschützern treibt einen Riss ins Mitte-links-Lager und mitunter quer durch die Parteien. In Berlin zuvorderst - aber nicht nur dort.
Allein die Linken, die gerade erst mit der Wahl einer Genossin, Mitglied der vom Verfassungsschutz beobachteten "Antikapitalistischen Linken" (AKL), zur Verfassungsrichterin in Mecklenburg-Vorpommern für Wirbel gesorgt haben, stehen in der Frage weitgehend geschlossen. Über die Ablehnung des Verfassungsschutzes besteht im Grunde Konsens.
Ähnlich kritisch sind auch die Berliner Grünen. Nach der Veröffentlichung des Behördenberichts schimpfte Landeschef Werner Graf, der Verfassungsschutz müsse "endlich lernen, sein rechtes Auge aufzubekommen". Seine Existenz stehe infrage.

Aktivisten von "Ende Gelände" im Tagebau Schleenhain bei Leipzig
Foto: Tim Wagner/ imago images/Tim WagnerUnterstützung erhalten Graf und die Grüne Jugend nun auch von Parteifreundin Renate Künast. Die frühere Bundesministerin und Berliner Bürgermeisterkandidatin spricht zwar nicht mehr von Auflösung des Verfassungsschutzes. Den aktuellen Bericht prangert jedoch auch sie an. Dass "Ende Gelände" dort auftauche, sei "völlig realitätsfremd", sagte sie dem SPIEGEL.
Künast fordert neue Strukturen im Sicherheitsapparat. "Es bräuchte eine größere neue Einheit, die maximal transparent und diskursiv mit der Gesellschaft arbeitet - und nur einen kleinen Verfassungsschutz, der eng begrenzt klassisch nachrichtendienstlich arbeitet."
"Naive Debattenbeiträge"
Bei der SPD, die in der Hauptstadt mit Grünen und Linken koaliert, sorgen derartige Töne für Unmut. Der Berliner Abgeordnete Tom Schreiber geißelte nach den ersten Attacken aus den Reihen der Koalitionspartner "naive Debattenbeiträge zur Abschaffung der Behörde". Diese grenzten "mehr an politisches Mobbing und politischen Karneval als an ernsthafte Diskussionsbeiträge". Die SPD-Fraktion stehe an der Seite des Verfassungsschutzes.
Die Rufe nach Abschaffung des Verfassungsschutzes sorgen auch außerhalb Berlins für Irritationen. Boris Pistorius, SPD-Innenminister von Niedersachsen und profiliertester Innenpolitiker der Partei, wirft den Jugendorganisationen sowie Linken und Grünen ein "bedenkliches Verständnis vom Rechtsstaat und den ihn tragenden Organen" vor.
"Wer behauptet, der Verfassungsschutz setze Links- und Rechtsextremismus gleich, nur weil er Linksextremismus benennt, ist auf dem Holzweg", sagte Pistorius dem SPIEGEL. "Es gibt keinen guten Extremismus." Der Geheimdienst sei verpflichtet, den Staat vor jeder Gefahr zu warnen: "'Ende Gelände' muss klären, wen sie da in ihren Reihen dulden."
Manche Kritik am Verfassungsschutz, etwa an dessen Rolle bei der Aufklärung der NSU-Mordserie, sei berechtigt, so Pistorius weiter. "Aber wir schaffen doch auch die Feuerwehr nicht ab, nur weil sie vielleicht mal zu spät zu einem Brand kommt." Mit Blick auf die Einstufung des AfD-"Flügels" als rechtsextrem sagte Pistorius, niemand könne ernsthaft noch behaupten, der Verfassungsschutz sei auf dem rechten Auge blind: "Wer es dennoch tut, will einfach nur an seinem schrägen Weltbild festhalten. Leider zählen dazu offenbar auch Teile unserer Jusos."
Lars Castellucci verteidigt den Verfassungsschutz ebenfalls gegen die Angriffe. Die Forderung nach Abschaffung schieße "völlig über das Ziel hinaus", sagte der stellvertretende innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion.
"Brauchen effektiven Verfassungsschutz"
Auch bei den Grünen teilen bei Weitem nicht alle die Linie der Jugendorganisationen. "Wir brauchen in diesen Zeiten der massiven Angriffe gegen unseren Rechtsstaat einen effektiven und rechtsstaatlich eng gebundenen Verfassungsschutz", sagte der grüne Fraktionsvize im Bundestag, Konstantin von Notz, dem SPIEGEL. "Auch weil wir die Aufklärung von verfassungsfeindlichen Entwicklungen, Aktivitäten und Vernetzungen mit guten Gründen nicht der Polizei übertragen sollten."
Von Notz betonte zwar "erhebliche Probleme und Skandale" und einen "drängenden und gravierenden Reformbedarf beim Bundesamt und den Landesämtern". Wer verfassungsfeindlich unterwegs sei, entscheiden allerdings "Behörden und am Ende unabhängige Gerichte im Rahmen der bestehenden Gesetze - und eben nicht politische Akteure".
Einer bleibt in der jetzigen Debatte hingegen bislang auffallend still: Kevin Kühnert. Der SPD-Linke ist zwar Juso-Chef und als solcher mitverantwortlich für das Protestpapier der Jugendverbände. Gleichzeitig ist er aber auch stellvertretender Vorsitzender der Mutterpartei. Eine Doppelfunktion, die zum Dilemma werden kann.