Verkehrs-Wirrwarr Berlin soll Chaos-S-Bahn übernehmen

Diesmal sind es die Bremsen: Schon wieder stehen bei der Berliner S-Bahn die Züge still, die Hauptstadt versinkt im Nahverkehrschaos. Die Deutsche Bahn und ihr Sparkurs seien für die Panne verantwortlich, wettern Berlins Politiker - und fordern Konsequenzen.
Von Anja Herr
Überfüllte Züge: Seit Juni fahren in Berlin mal mehr, mal weniger S-Bahnen

Überfüllte Züge: Seit Juni fahren in Berlin mal mehr, mal weniger S-Bahnen

Foto: Z5327 Soeren Stache/ dpa

Berlin - Drängeln, Quetschen, Schieben. Jeden Tag geht das so. Die Stimmung in den überfüllten Berliner S-Bahnen ist schlecht, die Luft auch - und das ist sinnbildlich für das Chaos der vergangenen Monate. Denn in der Hauptstadt läuft alles schief, was schief laufen kann.

Erst gab es im Mai den Achsbruch, der einen Zug zum Entgleisen brachte. Das Eisenbahn-Bundesamt stellte daraufhin fest, dass die S-Bahn ihre Züge zu selten gewartet hatte. Viele Bahnen durften nicht fahren, es kam zu massenhaften Ausfällen und Verspätungen - gerade auch auf den viel frequentierten Hauptstrecken. S-Bahn-Chef Tobias Heinemann und die drei anderen Geschäftsführer mussten angesichts des entstandenen Chaos gehen.

Nach und nach wurden die S-Bahn-Züge überprüft - und die Lage entspannte sich immer mehr. Doch just in dem Moment, da das Problem gelöst zu sein schien, tauchte auch schon das nächste auf: Am 7. September kam bei einer Routineuntersuchung heraus, dass bei einem Wagen vier von acht Bremszylindern defekt sind.

Das heißt: Wieder müssen alle Wagen überprüft werden, sechs Streckenabschnitte und 23 S-Bahnhöfe werden erneut stillgelegt, bis auf weiteres fährt mal wieder nur jeder vierte Zug. Eine Blamage für die Berliner S-Bahn, aber auch für die Deutsche Bahn - die viele als Hauptverantwortliche des Schlamassels ausfindig gemacht haben. So auch Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit und der Geschäftsführer des Verkehrsverbundes Berlin-Brandenburg, Hans Werner Franz.

Senat macht Sparprogramme für Fehler verantwortlich

Scharfe Kritik kommt mittlerweile aber auch von der Bundesregierung: Das Unternehmen werde seiner Verantwortung für einen reibungslosen Verkehr offensichtlich nicht gerecht, sagte der Sprecher des Bundesverkehrsministeriums, Rainer Lingenthal, am Mittwoch in Berlin: "Wir erwarten einen Wechsel in der Politik der Bahn." Er frage sich, wann in der Stadt wieder Zustände herrschten, "die der westlichen Zivilisation angemessen sind".

Einen besseren Zustand der Berliner S-Bahn wünscht sich auch SPD-Verkehrsexperte Christian Gaebler. Dazu müsse sich Berlin aber von der Deutschen Bahn emanzipieren. Es solle unbedingt geprüft werden, ob die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) die S-Bahn betreiben könnten: "Dann hätte die Kommune immerhin einen direkten Einfluss darauf, wo investiert und wo gespart wird", sagte Gaebler SPIEGEL ONLINE. Die Schuld für das Chaos liegt seiner Meinung nach vor allem bei der Deutschen Bahn "und auch bei Herrn Homburg persönlich". Gemeint ist Ulrich Homburg, Vorstand Personenverkehr. Er habe das Sparprogramm im Zusammenhang mit dem geplanten Börsengang schließlich "miterfunden", so Gaebler.

Sein Vorschlag stößt beim Regierenden Bürgermeister Wowereit auf offene Ohren. Auch der hat das Chaos als Beleg für die negativen Folgen der Privatisierungsstrategie der früheren Bahn-Führung kritisiert. "Uns ist jeder Vorschlag willkommen - auch der, dass die BVG die S-Bahn betreiben könnte", sagte Wowereits Sprecher Richard Meng SPIEGEL ONLINE. Im Vordergrund stehe aber momentan, den Verkehr wieder in den Griff zu bekommen. Auf die neue Führungsriege der Deutschen Bahn sei er gespannt: "Wollen wir doch mal sehen, ob sie es schaffen, mit dem Saustall aufzuräumen", sagte Meng. Versäumnisse des Senats kann er nicht feststellen: "Wir haben der Bahnprivatisierung immer kritisch gegenübergestanden."

Einen Notfahrplan gibt es noch nicht

Auch der Geschäftsführer des Verkehrsverbundes Berlin-Brandenburg, Hans Werner Franz, kritisierte den Sparkurs der Deutschen Bahn im Zusammenhang mit dem geplanten Börsengang: Von 2005 bis 2008 sei bei der Berliner S-Bahn ein Viertel der Stellen abgebaut worden, vor allem auch im Bereich der Wartung. Der Gewinn sei im gleichen Zeitraum von neun auf 56 Millionen gestiegen.

Der Grund für die Versäumnisse bei der Berliner S-Bahn aus Sicht von Franz: "Da waren junge Manager an der Spitze, die hatten noch keine Erfahrung, die kamen zum Teil direkt aus der Uni." Die Konzernspitze habe sie extrem unter Druck gesetzt, die erwarteten Gewinne zu erzielen, sagte er SPIEGEL ONLINE. So hätten sie zum Teil die Wartungsintervalle nicht eingehalten, um Geld zu sparen und den Anforderungen gerecht zu werden. "Die hatten einfach keinen Mut, gegen die Konzernspitze anzureden", vermutet Franz.

Die Deutsche Bahn prüft momentan, wie es zu dem Chaos bei der Berliner S-Bahn kommen konnte. Die Mängel an den Bremsen habe die S-Bahn allerdings selbst zu verantworten, sagte Bahn-Sprecher Jürgen Kornmann SPIEGEL ONLINE: "Die Versäumnisse sind hausgemacht. Da hat die S-Bahn Berlin gegen die eigenen Richtlinien verstoßen."

Schuld ist irgendwie niemand - und wann die S-Bahn wieder regelmäßig fährt, ist auch noch nicht klar. An einem Notfahrplan wird gearbeitet. Wütend sind die meisten Fahrgäste in letzter Zeit nicht mehr, wenn sie bei der Fahrt zur Arbeit wieder mal fast erdrückt werden. Eher frustriert.

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