Verlassenes Land Lockruf der Leere
Das Leipzig von heute erinnert die örtliche "Volkszeitung" an ein Stück Käse: "Früher war die Stadt wie ein Gouda, dicht bebaut und besiedelt. In den letzten Jahren wurde sie zum Emmentaler, zum Schweizer Käse mit großen Löchern." Nun gehe es darum, schreibt das Blatt, "die Leerräume so zu gestalten, dass sie zu ertragen sind".
Was auf Leipzig zutrifft, gilt für den gesamten Osten und zunehmend auch für weite Landstriche und für viele Großstädte im Westen: Babymangel und Binnenwanderung haben die Republik gleichsam perforiert - und nun sehen sich Planer und Politiker allenthalben gefordert, über den Umgang mit den Vakanzen nachzudenken.
Dabei könnten die Deutschen im Westen von den Erfahrungen profitieren, die ihre Mitbürger im Osten in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten gesammelt haben. Doch die Politiker in den alten Ländern, glaubt Stefan Skora, der Baubürgermeister von Hoyerswerda, "die wissen noch gar nicht, was wirklich auf sie zukommt".
Sicher ist: Mit noch so viel Geld allein wird sich das Ausbluten von Stadt und Land nicht stoppen lassen, wie der Aufbau Ost gezeigt hat. Warum eigentlich, witzelt Volkes Stimme, haben die nagelneuen Autobahnen in den neuen Ländern sechs Spuren? Klar doch, eine geht in den Osten, fünf führen gen Westen.
"Wofür zur Hölle," flucht die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung", "brauchen Städte Autobahnanschlüsse, deren Bevölkerung schon bald so alt und arm sein wird, dass sie sich vielleicht noch einen Hackenporsche für den Gang zum Lidl leisten kann, aber sicherlich kein Auto?"
Auf welche Städte kann Deutschland verzichten?
Und wozu eigentlich sind neue Gewerbezonen nötig in Gegenden, in denen die einst von Helmut Kohl versprochenen "blühenden Landschaften" nur als vielfältige Trümmer- und Schuttvegetation "auf schon Jahre brachliegenden Gewerbeflächen" existieren, wie die Regionalforscher Thilo Lang und Sascha Vogler aus dem brandenburgischen Erkner spotten?
Ein anderes Beispiel nennt der Aufbau-Ost-Experte und frühere Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi: "Da haben Sie wunderbare elektronische Anzeiger, die angeben, wann die nächste Straßenbahn fährt, aber nur wenige Leute, die einsteigen." Groß sei die Gefahr, "dass die ganze schöne Infrastruktur wieder zerfällt, weil sie keiner bezahlen kann".
Dann aber stünde mehr zur Debatte als nur der Rückbau einzelner Viertel. "Alles läuft auf die Frage zu: Auf welche Stadt kann man verzichten, auf welche nicht?, kommentiert die Hamburger "Zeit": "Wer kann sich in Zukunft Altenburg, Torgau, Sangerhausen noch leisten?"
Mehr noch als an immer neuen Milliarden, so scheint es, mangelt es an intelligenten Plänen für den Umgang mit den Folgen der Schrumpfungsprozesse. Gesucht wird eine Zukunftsvision zum Beispiel für das gewaltige entindustrialisierte Areal zwischen Rügen und Rhön, wo nach den Prognosen des Berliner Instituts für Weltbevölkerung und globale Entwicklung bereits "die neuen heimlichen Naturparks" entstehen.
Werden sich dort eines Tages nur noch Fuchs und Hase gute Nacht sagen, zur Freude von ein paar Naturtouristen? Werden Windfarmer und Ökobauern das Land bewirtschaften oder werden Alternativos die verlassenen Halbruinen übernehmen, wenn der letzte Einheimische das Licht ausgeknipst hat?
Gefragt sind zugleich aber auch Konzepte für den Umgang mit den Hunderttausenden von verlassenen städtischen Gebäuden, in denen allein im Osten so viele Menschen Unterkunft finden könnten, wie Rostock, Magdeburg, Halle, Leipzig, Dresden, Chemnitz und Erfurt insgesamt (noch) Einwohner haben.
Der "Plattmacher" versteht sich als "Plattenspieler"
In den neuen Ländern scheint der Umgang mit dem Häuser-Leerstand vergleichsweise einfach. Um Abriss und Auflockerung überzähliger Großsiedlungen zu forcieren, hat der Bund in einem bis 2009 laufenden Sonderprogramm "Stadtumbau Ost" 2,7 Milliarden Euro bereitgestellt. Die Beseitigung leerstehender Bauten wird mit 60 Euro pro Quadratmeter gefördert.
Nur vereinzelt melden sich Abrisskritiker zu Wort, die wie der Berliner Architekt Ulrich Peickert die alten Plattenbauten "zum Wegwerfen zu schade" finden. Bei einem Symposium präsentierte Peickert die Idee, ein weitgehend verlassenes Viertel in Stendal-Süd in eine 120.000 Quadratmeter große Solaranlage umzuwandeln, mit Sonnenkollektoren auf allen Dächern und an den Fassaden. Im Innern der angegammelten Gebäude sollten Pilze für medizinische Zwecke gezüchtet werden.
Einen Teil der Plattensubstanz will auch Jürgen Polzehl nutzen, Chef-Planer in Schwedt an der Oder, einer Stadt, die alljährlich rund 1000 Einwohner verliert. Der Stadtentwicklungsdezernent, von der Presse bisweilen als "Plattmacher" tituliert, sieht sich selbst eher als "Plattenspieler": Er lässt wie etliche seiner Kollegen in anderen Städten die oberen Etagen von Plattenbauten kappen und die einst monotonen Wohnblocks zu kleinen Stadtvillen zurechtstutzen.
Bauschild-Aufschrift: "Hier entsteht eine Wiese"
Auf die teilweise Umwandlung von Platte in "Edelplatte" (Volksmund) mit bunten Balkonen im Toskana-Stil und mit großzügig zusammengelegten Wohnungen setzt auch die einstige sozialistische Musterstadt Hoyerswerda. Seit das dortige Industriekombinat "Schwarze Pumpe" dichtgemacht hat, ist die Einwohnerzahl von 70.000 auf rund 40.000 gesunken; bis 2020 erwartet die Stadt einen weiteren Rückgang auf 30.000 Einwohner.
Wegen der massiven Abwanderung müssen auch dort ganze Blocks abgerissen werden. Andernfalls, bei allzu viel Umbau zur "Edelplatte", würden die Wohnungsgesellschaften riskieren, dass bald auch ein Teil der aufwendig hergerichteten Bauten leer steht.
Kommunalpolitiker, die nach der künftigen Nutzung abbruchreifer Plattenbau-Viertel gefragt werden, antworten daher immer öfter wie Baubürgermeister Skora in Hoyerswerda: "Leute, da kommt nichts mehr hin." Eine Künstlergruppe, die in seiner Stadt den Abriss begleitet, hat schon Bauschilder aufgestellt mit dem Hinweis: "Hier entsteht eine Wiese."
Hirschgehege am Bahnhof, Streichelzoo und Gemüseacker in der City, lesen Sie im zweiten Teil, wie die Städte grüner gemacht werden sollen
"Ganze Stadtteile müssen weg"
Städtebaulich wie finanzpolitisch ist es gleichermaßen sinnvoll, die Überbleibsel der sozialistischen Massenmenschhaltung, die einst sogenannten Arbeiterschließfächer, an der Peripherie der Orte dem Erdboden gleich zu machen. Denn nur eine "konzentrische Schrumpfung" der Kommunen, von außen nach innen, führt zu einem kompakten, ökonomischen Verkehrs- und Versorgungssystem.
Rückbau-Experten wie der Thüringer Andreas Jäger fordern daher: "Ganze Stadtteile müssen weg, samt Straßen und Leitungen, sonst ist die Infrastruktur überdimensioniert und überteuert - zu Lasten der Bewohner."
Sehr viel schwieriger als der Abriss an den Stadträndern ist der Umgang mit verwahrlosten Vierteln in den Zentren - wie in Leipzig, wo die DDR einst die Altbauten so sehr vernachlässigt hatte, dass das Volk spottete, die SED wolle "Ruinen schaffen ohne Waffen". Wo binnen anderthalb Jahrzehnten rund 80.000 Einwohner die Koffer gepackt haben, standen bald Tausende teils einsturzgefährdeter Altbauten leer.
Planer stehen vor Aufgaben wie nach dem Bombenkrieg
Die Gründerzeithäuser einzumotten und auf bessere Zeiten zu warten, ist kaum möglich. "So eine Immobilie ist nichts wert", sagt Stefan Weber von der sächsischen Aufbaubank. "Um sie über mieterarme Jahre zu retten, gibt's von der Bank kein Geld." Eine Renovierung ohne hinreichende Nachfrage wäre ruinös, Nichtstun wiederum verbietet sich schon aus Sicherheitsgründen.
Folglich sind auch in den Zentren vielerorts Abriss- und Aufwertungsaktionen notwendig - was die Planer vor Aufgaben stellt, mit denen sie zuletzt in der "Stunde null" konfrontiert waren: nach den Bombenangriffen des Zweiten Weltkriegs.
Der Berliner Regionalsoziologe Hartmut Häußermann glaubt sogar, dass vergleichbare Probleme überhaupt noch nie zu bewältigen waren: "Für eine Stadtentwicklung ohne ökonomisches Wachstum bei zurückgehender Einwohnerzahl zu planen ist, historisch ohne Vorbild."
Erschwert wird der Umbau der Innenstädte durch die dort oft komplizierten Besitzverhältnisse und durch mangelnde Kooperationsbereitschaft der teilweise ortsfernen Grundeigner. Viele wollen, wie Häußermann sagt, "den Wertverfall ihrer Immobilien nicht wahrhaben und halten an illusionären Preisvorstellungen fest".
In der City Gemüsegärten und ein Streichelzoo
Vielleicht auch deshalb stürzen sich Planer mancherorts lieber mit Verve auf die Flächenabrisse am Stadtrand. Dabei werden sie regelmäßig von den großen Wohnungsgesellschaften unterstützt, die schon deshalb auf "Marktbereinigung" drängen, weil der Leerstand aufs Mietniveau drückt.
So ist es in dem vom Bund und Ländern großzügig geförderten "Stadtumbau Ost" zu einer merkwürdigen Schieflage gekommen: Während am Stadtrand der Plattenbau-Abriss vorankommt, hat die nicht minder wichtige Sanierung in der Nähe der Zentren vieler Städte "bisher fast gar nicht stattgefunden", wie der Hallenser Wirtschaftsforscher Peter Franz monierte; gerade in zentraler Lage aber würden neue Stadthäuser "mehr Impulse bringen als der bisherige Regelfall der Umwandlung ehemaliger Plattenbaustandorte in Grünflächen".
Die Emmentaler-Stadt Leipzig soll zur Parkstadt werden. Die Wohnbrache im Stadtkern bietet jede Menge Platz für Grünareale. Ein "Dunkler Wald" aus Ahorn und Esche ist bereits für 600.000 Euro angepflanzt worden, auch ein "Lichter Hain" wurde konzipiert. Diskutiert wurde auch schon über ein Hirschgehege am Hauptbahnhof, über "temporäre innerstädtische Landwirtschaft" mit Anbau von Gemüse oder Weihnachtsbäumen und über einen Streichelzoo in zentraler Lage.
Auf dem Ödland soll Präriegras blühen
Stadtumbau dieser Art würde den Abschied vom bisherigen Leitbild vieler Planer bedeuten: der urbanen Dichte. Die Auflockerung der Kernstädte durch Grün- und Freizeitflächen könnte jedoch die Chance eröffnen, die Abwanderung junger Familien ins Umland zu bremsen. Denn zumeist liegt dem Zug ins Grüne weniger der Wunsch nach Eigentumserwerb zu Grunde als der Verdruss über Lärm und Enge in den städtischen Ballungsräumen.
"Nicht schwarz, sondern grün" sieht Karl Gröger, Baudezernent im sachsen-anhaltinischen Dessau, für die Zukunft der zunehmend durchlöcherten Kommunen im Osten. "Vitale Stadtinseln in einem aufgelockerten Stadtkern" sollen auch in Dessau an die Stelle der Quartiere aus DDR-Zeiten treten; Grögers Entwürfe zeigen bebaute Einsprengsel inmitten grüner Flächen.
Die Gestaltung und Erhaltung neuer Grünzonen bereitet vielen Kommunen jedoch Sorge. Während der Abriss von Gebäuden subventioniert wird, mangelt es an Geld für die Anlage und die Pflege von Parks. Überall wird daher nach Möglichkeiten gesucht, die Brachflächen kostengünstig in pflegeleichte Landschaftszüge zu verwandeln.
Den Berliner Ingenieurbiologen Norbert Kühn inspirierte der Abriss von Plattenbauten im Stadtteil Marzahn zu der Idee, das Ödland mit den robusten Gräsern und Sträuchern der nordamerikanischen Prärien zu bepflanzen. Diese Flora, sagt Kühn, gedeihe nicht nur ohne Pflege, sondern trage auch hübsche Blüten und lasse daher "gar nicht erst den Eindruck von Verwahrlosung" entstehen.
Industrieansiedlung - unwahrscheinlich wie ein Lotto-Sechser
Eine ganze Generation junger Grünplaner hat begonnen, sich der neuen Herausforderung zu stellen. Studentinnen des Instituts für Landschaftsarchitektur der TU Berlin haben der Stadt Dessau vorgeschlagen, in den neuen Grünzonen keine festen Wege zu bauen, sondern es den Anwohnern zu überlassen, Trampelpfade zu schaffen - "Anarchie statt Planung", kommentierte die "Mitteldeutsche Zeitung" die Anregung.
Beleben ließen sich die weiten Ödflächen in den Schrumpfstädten, wie schon 2004 in einer Berliner Ausstellung zum Thema "Shrinking Cities" vorgeschlagen wurde, auch auf überkommene Weise: Warum sollten nicht Kuhherden durch die aufgelockerten Städte der Zukunft ziehen dürfen? Mancherorts muss die neue Auflockerung bereits als Werbeargument herhalten: "Erfurts Lücken locken", heißt es in der thüringischen Landeshauptstadt.
Vor noch größere Herausforderungen als in den Städten sehen sich Politiker und Planer in den Schrumpfzonen des ländlichen Raums gestellt, von der Nordseeküste bis Vorpommern, vom Donauried bis zum Erzgebirge. Denn an der Peripherie des Landes schwindet von Jahr zu Jahr die Aussicht, neue Arbeitsplätze schaffen zu können. "Die Chance auf Ansiedlung eines Großbetriebes ist etwa so groß wie auf einen Sechser im Lotto", klagt Jörg Schulz, Oberbürgermeister der Stadt Bremerhaven, die alljährlich bis zu 2000 Einwohner verliert.
Norddeutsche "Pensionopolis" soll Senioren locken
Wo Arbeitsplätze aber knapp sind und immer knapper werden, können logischerweise nur drei Kategorien von Menschen angelockt werden: solche, die aufs Geldverdienen vor Ort a) nicht, b) vorübergehend nicht oder c) gar nicht mehr angewiesen sind - also Lebenskünstler und Studierende, Telearbeiter und Wochenendler, Urlaubsuchende und Altersruheständler.
Als "Florida Deutschlands" oder als "Pensionopolis" für wohlhabende Senioren preisen sich bereits jetzt strukturschwache Länder wie Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern an. Ruheständler, die aus teuren Stadtdomizilen in vergleichsweise billige Landhäuser und Resthöfe weit draußen im Grünen umziehen, hätten, so der Soziologe Günter Endruweit, oft "einige tausend Euro über", die dann in den darbenden Regionen ausgegeben werden könnten.
Nicht selten bereichern die Neulinge auch das Dorfleben. Viele Rentner "knüpfen dort neue soziale Kontakte" und belebten mit ehrenamtlicher Arbeit die von der Abwanderung geschwächten ländlichen Vereine, berichtet der Kieler Landesseniorenrat.
"Glasfaserkabel wirken wie früher der elektrische Strom"
Aber auch stadtmüde Jüngere folgen dem Lockruf der Leere. "Raumpioniere" nennt sie Ulf Matthiesen vom Institut für Regionalentwicklung in Erkner bei Berlin. Zu dieser Kategorie zählt er Künstler, die in leerstehenden Scheunen großzügige Ateliers finden, fleißige Ästheten, die mit selbstgeschnitzten Holznägeln liebevoll altes Fachwerk restaurieren, sowie Programmierer und andere Telewerker, die an ihrem PC überall arbeiten können - sofern es dort einen schnellen Telefonanschluss gibt.
Ein fixer Zugang zur Datenautobahn ist daher für die Dörfler der Zukunft zumindest ebenso wichtig wie eine gut erreichbare Bundesautobahn. Mit DSL-Anschlüssen jedoch ist der ländliche Raum unterversorgt, und auch die Zukunftstechnik ADSL2+ wird vielerorts kaum verfügbar sein. Bislang vergebens fordern Fachleute wie Peter Hauk, baden-württembergischer Minister für den ländlichen Raum, das Kommunikationsgefälle zwischen Stadt und Land baldmöglichst abzubauen, um die Fläche vor weiterem Niedergang zu bewahren: "DSL oder noch besser Glasfaser wird auf dem Land wirken wie früher der elektrische Strom."
Wenn es auch an Glasfaserkabeln fehlt, an ungenutzten Gebäuden herrscht zur Freude der neuen Landleute kein Mangel. Weil das Förderprogramm "Stadtumbau" außerhalb der Städte nicht greift und den Gemeinden das Geld zum Abriss fehlt, wäre manches alte Haus dem Verfall preisgegeben, wenn es nicht Stadtflüchter übernehmen würden, die den "Luxus der Leere" erleben wollen - so der Titel eines Buches, in dem der Architekturkritiker Wolfgang Kil die "vom Industriezeitalter entlassenen Ländereien als Paradiese für Gärtner und Bastler, für Denker und Träumer und Forscher und Genießer" preist.
Ein-Euro-Immobilien für Familien mit Kindern
"Viel Sympathie" für solche Perspektiven hat Wolfgang Wieland von den Berliner Grünen. Doch er weiß auch, dass solche Lebensmodelle keine Alternative für Jedermann darstellen. Einem arbeitslosen Eisenhüttenstädter Malocher zum Beispiel könne er schlecht vorschlagen: "Werde Lebenskünstler und Spinner."
Regionalforscher haben bereits Modelle entwickelt, wie der ländliche "Entleerungsprozess" zur "Initiierung einer progressiven Populationsdynamik" genutzt werden kann. Hinter dem Fachkauderwelsch verbirgt sich der revolutionär anmutende Vorschlag, der Staat solle zum Symbolpreis von einem Euro unverkäufliche Immobilien auf dem Lande übernehmen und Familien mit Kindern überlassen; die Schenkung könne dann nach einer zehnjährigen Bindungsfrist rechtskräftig werden.
Von solchen Ein-Euro-Immobilien, hieß es auf einer Fachkonferenz der Akademie für Raumforschung und Landesplanung, seien nicht nur "raumstabilisierende Impulse zur Wiederbelebung demografischer Schrumpfungsgebiete" zu erwarten. Sie könnten in der babyarmen Bundesrepublik auch als "Instrument der Familienförderung" genutzt werden.
Zu Unrecht vernachlässigt wird nach Ansicht von Experten deutschlandweit auch die Chance, Abwanderungszonen zu Ferienzielen aufzuwerten. Drei von zehn deutschen Urlaubern suchten "vor allem ländliche Idylle und Einsamkeit", fänden geeignete Ferienhäuser bislang jedoch überwiegend in Dänemark, hat die Potsdamer Wirtschaftsgeografin Ines Carstensen herausgefunden.
Dabei stünden überall in der deutschen Provinz genügend Höfe oder Scheunen leer, "die nur zu Ferienhäusern umgestaltet werden müssten". Allein in der dünnbesiedelten Uckermark hat Carstensen mehr als 200 für Ferienzwecke geeignete Schlösser, Herren- und Gutshäuser gezählt.
Wird Ostdeutschland zur "Toskana für Polen"?
Wertvolle Chancen zur Bewahrung gewachsener Kulturlandschaften würden vertan, mahnt die Wissenschaftlerin, wenn die Touristiker die Ferienhausgäste weiterhin als unattraktive Kundschaft verkennen. Tatsächlich zeigt jeder Blick in Gästebücher ländlicher Ferienwohnungen und -häuser, was Städtern am Urlaub abseits der Ballungsgebiete gefällt. Typisches Urteil einer Familie aus dem Ruhrgebiet nach einem Urlaub an der idyllischen Oste im halbvergessenen Elbe-Weser-Dreieck: "Hömma! Iss datt ruhich hier... Kumma! Watt datt hier schön iss... Samma! Hasse schon die Äppels probiert? Hamma uns hier pudelwohl gefühlt!"
Auch in den neuen Ländern bieten die Branchen Tourismus, Wellness und Ernährung Arbeitschancen für Hunderttausende. Von einer "Ankopplung an den Megatrend Gesundheit" schwärmt der Schweriner Arbeitsminister Helmut Holter. "Warum sollte Mecklenburg-Vorpommern", fragt der PDS-Politiker, "nicht zum Gesundheitsland werden?" Die "Welt" wiederum sieht in Ostdeutschland schon eine mögliche "Toskana der Polen".
An landschaftlich reizvollen Regionen mangelt es kaum irgendwo im Osten- und ihre Zahl wird zunehmen. In der Niederlausitz etwa, zwischen Berlin und Dresden, soll bis 2018 in den Kratern der ehemaligen Braunkohle-Tagebauten die größte künstliche Seenlandschaft Europas entstehen, ein Paradies für Segler und Surfer. Und vielerorts sind neue Gesundheitsdörfer, Spaßbäder und Ferienrouten entstanden.
"Nicht im Baströckchen vor Fremden tanzen"
Noch allerdings erweisen sich touristisch nutzbare Zonen gerade im Osten häufig als Servicewüste. Oft herrschen Aversionen gegen Wessi-Touristen. Die dickschädeligen Einheimischen, karikiert ein Bürgermeister von der Ostseeküste deren Denkungsart, wollten "nicht im Baströckchen vor den Fremden tanzen"; lieber richte sich mancher mit der Sozialhilfe ein.
Auch die Gastronomie sei vielfach noch "schlicht verheerend", rügt Regionalforscher Matthiesen. Statt die in der DDR-Ära verschüttete traditionelle regionale Esskultur wiederzuentdecken oder attraktive neue Angebote zu entwickeln (Matthiesen-Beispiel: "ungespritzter und mit Buchenholz geräucherter märkischer Schinken zu Beelitzer Spargel"), fertige die Gastronomie beispielsweise in Brandenburg die Besucher oft noch immer ab wie zu DDR-Zeiten - typisches Gericht: Schnitzel mit Sättigungsbeilagen. Wünsche nach pfiffiger, leichterer Kost würden von vielen Wirten abgetan als "Übersteigerung überheblicher Wessis", kritisiert der Professor in einem Papier mit dem Titel "Kost the Ost".
Studenten schwärmen von billigen Buden im Osten
Solange der Tourismus nicht wirklich in Schwung kommt, ist nach Ansicht des Bielefelder Bevölkerungswissenschaftlers Birg der Ausbau des Bildungssektors der beste Weg, die Entvölkerung des Ostens aufzuhalten. Top-Schulen, Top-Universitäten, Top-Forschungsinstitute - darin sieht Birg wie viele andere Fachleute die Schlüssel zu einer besseren Zukunft für die Sorgenländer.
"Investitionen in die Wissenschaft sind die einzige Chance, den Osten wirtschaftlich auf die Beine zu bekommen", glaubt auch Karl Max Einhäupl, langjähriger Vorsitzender des Wissenschaftsrates. Bislang hat der Staat auf diesem Sektor seine Steuerungsmöglichkeiten gut genutzt; 18 der 80 Max-Planck-Institute etwa sind in den neuen Länder gegründet worden.
Und auch viele Hochschulen ziehen dort junge, aktive Menschen an. In Ost-Städten wie Ilmenau (7500 Studierende bei 27.000 Einwohnern) hat sich das Bildungswesen schon als Mittel gegen Bevölkerungsschwund bewährt. In Cottbus kommt bereits nahezu jeder dritte Studierende aus dem Ausland. Vor allem junge Osteuropäer schwärmen von der Qualität der Lehre und den - dank Abwanderung - niedrigen Mieten in den Universitätsstädten zwischen Elbe und Oder. Die Pförtnerfunktion dieser Hochschulen biete Deutschland die Chance, so Einhäupl, "die besten Nachwuchsforscher Osteuropas zu gewinnen".
Energiewirte sollen Weizen zum Heizen anbauen
Dagegen raten Fachleute davon ab, in der Provinz auf Verdacht immer neue Gewerbeparks zu schaffen, bevor die bestehenden ausgelastet sind. Denn dem Versuch, "im ländlichen Raum Gewerbebetriebe oder Dienstleistungen anzusiedeln, die weder einen Absatzmarkt, ihren Arbeitskräftepool noch ihre Rohstoffquellen in ihrer Umgebung haben", seien "kaum Erfolgsausichten" beschieden, glaubt etwa die Bundestagsabgeordnete Cornelia Behm, Grünen-Sprecherin für Fragen des ländlichen Raums.
Ähnlich wie auch viele lodengrüne Agrarfachleute will Behm Landwirte dazu ermutigen, "Energiewirte" zu werden, die nachwachsende Rohstoffe produzieren, beispielsweise Weizen zum Heizen oder Biogas zur Stromerzeugung. Nebenher könne auch die Landwirtschaft vom "Wirtschaftsfaktor Tourismus" profitieren, dessen Förderung im übrigen dem gesamten Landvolk zugute komme: Jede Investition in "weiche Standortfaktoren" wie Bildung und Kultur oder die Sanierung von Denkmälern wie alten Kirchen und Gärten, Schlössern und Herrenhäusern schaffe "Attraktivität für Bewohner und Gäste" und bremse daher die Abwanderung.
In detaillierten "Behmerkungen" zur Lage empfiehlt Behm Skandinavien als Vorbild für Deutschlands schrumpfenden Regionen. Denn die nordischen Länder demonstrierten, dass "auch dünn besiedelte ländliche Räume intakt sein können" und "eine hohe Lebensqualität bieten". Dort sei eine bedarfsgerechte Infrastruktur entwickelt worden, die ländlichen und urbanen Räumen zwar nicht gleiche, aber gleichwertige Lebensqualität sichere.
Wo der Mensch geht, kommt der Wolf
Sollte die deutsche Politik hingegen fortfahren, die Problemzonen sich selbst zu überlassen, wäre wohl nur ein einziges positives Resultat zu erwarten: In die von Menschen verlassenen Zonen könnten verdrängte Wildtiere zurückkehren - vorneweg die Wölfe.
Schon in den letzten Jahren haben sich Dutzende Exemplare des menschenscheuen Räubers beispielsweise nach Sachsen gewagt, wo mittlerweile, zur Freude des vormaligen Umweltministers Jürgen Trittin, "die Koexistenz von Wolf und Mensch bereits Normalität" ist. Und bald schon erwarten Naturschützer weitere "erfreuliche Zeichen dafür, dass wir in unserem Land über intakte Naturräume verfügen". Trittin: "Auch in Brandenburg gibt es gute Chancen, dass sich Wölfe wieder ansiedeln."
Auf noch mehr Zuwanderer hofft Hartmut Vogtmann, der Präsident des Bundesamtes für Naturschutz: "Auch Elch und Bär stehen vor der Tür."
Lesen Sie in der nächsten Folge:
Diät für die Speckgürtel - Die Eigenheimringe rund um die Metropolen haben jahrzehntelang zum Ausbluten der Städte beigetragen. Jetzt zeichnet sich eine Trendwende ab.
Zuvor in der Serie erschienen:
1. Verlorenes Land, verlassenes Land
2. Keine Zukunft für die Kuhzunft
3. Polinnen als letzte Hoffnung