Verlassenes Land, verlorenes Land Polinnen als letzte Hoffnung
Die blonde Polin heißt nicht Potemkin, sondern Pasikowska. Doch wie der legendäre russische Feldmarschall versteht es die junge Künstlerin, mit Leinwand, Leim und Farbe triste Realitäten aufzuhübschen.
Während Fürst Grigorij Alexandrowitsch Potemkin im Jahre 1787 in Südrussland der durchreisenden Zarin Katharina II. mit bemalten Kulissen blühende Dörfer vorgetäuscht haben soll, nahm sich Anita Pasikowska der deutschen Provinzstadt Görlitz an - eines Gemeinwesens, in dem sich wie kaum irgendwo sonst die Widersprüchlichkeiten des wiedervereinigten Deutschland spiegeln.
Obwohl der Westen seit 1990 mit Multi-Millionen-Aufwand geholfen hat, die matt gewordene "Perle der Lausitz" mit ihren mehr als 4000 denkmalgeschützten Bauwerken aufzupolieren, steht die aufwendig sanierte Altstadt heute fast zur Hälfte leer, wirken die toten Fenster in den fein restaurierten Renaissancefassaden auf Besucher wie "Grabsteine der Urbanität" ("Frankfurter Allgemeine").
Seit der Wende sind aus der schmucken Geisterstadt an der deutsch-polnischen Grenze mehr als 20.000 Menschen gen Westen gezogen, jeder vierte Einwohner.
Ein Fall für Anita Pasikowska. Sie sorgte dafür, dass plötzlich nachts in vormals schwarzen Fenstern warmes Licht leuchtete; hinter den Scheiben waren Blumentöpfe und Kinderköpfe wahrnehmbar; Schatten huschten über bunte Vorhänge; Wohnzimmerlampen erstrahlten und erloschen wieder.
Alles war nur schöner Schein: die Installation einer Illusionistin, die "traurig" gewesen war über die Stadtkulisse mit den "vielen leerstehenden Häusern und den wenigen Menschen auf der Straße".
Bis 2010 verlassen eine Million Menschen den Osten
Wenngleich Kunst-Events wie die Pasikowskaschen Häuser, illuminiert im Dienste von Stadtmarketing und Imagepflege, Seltenheitswert haben - die Probleme von Görlitz teilen mehr und mehr deutsche Kommunen. Während in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten rund eine Billion Euro an Subventionen gen Osten flossen, wanderten mehr als zwei Millionen Menschen gen Westen - und ein Ende der gegenläufigen Entwicklung ist nicht absehbar.
Bevölkerungswissenschaftler rechnen bis 2020 mit einer Schrumpfung des Ostens um mindestens eine weitere Million Einwohner. Zu den Fortzugswilligen zählen beispielsweise Fernpendler, die jahrelang die Woche über im Westen gearbeitet haben und nun, der Fahrerei überdrüssig, dort auch wohnhaft werden wollen.
Zurück in die alten Länder zieht es auch Wessis, die einst per Buschprämie in den Osten gelockt worden waren. In Sachsen-Anhalt etwa, das seit 1990 zehn Prozent seiner Bevölkerung verloren hat, ist zum Bedauern des evangelischen Bischofs Axel Noack auch "von den früheren Ministern, Staatssekretären, Regierungsbeamten fast keiner mehr hier".
Mittlerweile, beobachtet Markus Goldschmidt, Baudezernent der früheren Textilstadt Forst, "gehen sogar die Alten weg, sie ziehen ihren Kindern hinterher, in den Westen". Seit der Wende hat der Ort in der Lausitz jeden fünften Einwohner verloren. Goldschmidt: "Wenn die Entwicklung so weitergeht wie jetzt, dann werden ganze Städte von den Landkarten verschwinden."
Mehr als alles andere aber schreckt die Fachleute ein Trend, der im Osten bereits spektakuläre Ausmaße angenommen hat und auch in den alten Ländern bereits wahrnehmbar ist: die Massenflucht junger Frauen aus dem ländlichen Raum in die prosperierenden Stadtregionen.
Dieser Aderlass trifft die Abwanderungsregionen doppelt hart: Die Frauen sind zumeist besser gebildet als die Männer, zugleich verlieren die Regionen potenzielle Mütter - weiterer Schwund ist damit programmiert.
Exodus der Frauen - ein historisch einmaliges Phänomen
"Nirgendwo auf der Welt ist die überproportionale Abwanderung von Frauen so groß wie in Ostdeutschland", sagt Wolfgang Weiß von der Universität Greifswald. Rainer Klingholz vom Berlin-Institut spricht von einem "historisch einmaligen Phänomen". In der Geschichte der Menschheit hätten bei Völkerwanderungen sonst stets Männer die Vorhut gebildet.
In Ost wie West zeigen sich nun die Frauen auf der Suche nach einem guten Job oder einer guten Partie deutlich mobiler als junge Männer. Die weiblichen Landeier - vielleicht beflügelt von der tollen Lolle, dem Publikumsliebling aus der TV-Kultserie "Berlin, Berlin" - haben kaum Angst vor dem Asphaltdschungel der Großstädte. Statt daheim auf einen Heiratsantrag zu warten, wollen sie sich im Beruf verwirklichen. "Sie migrieren eigenständig", sagt Steffen Kröhnert vom Berlin-Institut. Und: Sie kehren, sind sie erst einmal fortgezogen, seltener wieder heim als junge Männer.
Warum sollten sie auch. Frauen neigten dazu, sich ihren Partner möglichst in höheren Sozialsphären zu suchen, erklärt die Magdeburger Professorin Christiane Dienel: "Frauen heiraten nach oben, Männer nicht." Besser ausgebildete, besser verdienende Männer aber werden auf dem Lande zunehmend knapp.
Im zweiten Teil lesen Sie, warum die Intelligenzija den Osten flieht und wie die Männer ihren Testosteronüberschuss kompensieren
"Das Gefühl, die Arschkarte gezogen zu haben"
Im Osten hat die Abwanderung der Klügeren bereits lange vor der Wende begonnen; schon unter den Republikflüchtigen der SED-Ära waren akademisch Gebildete überrepräsentiert. Und seit dem Fall der Mauer hat sich die Negativspirale noch beschleunigt.
Die Folgen des seither anhaltenden brain drain sind inzwischen in den Pisa-Statistiken ebenso erkennbar wie in den flächendeckenden Intelligenztests an Wehrpflichtigen: Die dümmsten jungen Deutschen leben demnach in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt. Verlagsvertreter, die das einstige Leseland bereisen, berichten von weinenden Provinz-Buchhändlerinnen - die einstige Stammkundschaft hat sich auf und davon gemacht.
So hat der IQ-Export weite Regionen im neuen Osten abermals zu dem werden lassen, was er während der Massenflucht durch den Eisernen Vorhang schon einmal gewesen zu sein schien: ein Auswanderungsland, in dem nur "der doofe Rest" noch ausharrt, wie damals die Zurückgebliebenen selbstironisch "DDR" buchstabierten.
Ganze Abi-Jahrgänge setzen sich mittlerweile aus den Problemzonen des Ostens geschlossen in den Westen ab. Als Ostdeutsche, sagt eine Abiturientin aus Neubrandenburg, habe sie "das Gefühl, die Arschkarte gezogen zu haben".
"Sie schrauben an ihren Mopeds statt an ihrer Freundin"
Die meist schlechter ausgebildeten und oft arbeitslosen jungen Männer, die im Lande bleiben, gelten als wenig attraktiv. Die Junggesellen "am sozial unteren Ende des Heiratsmarktes" finden daher nach einer Analyse des Berlin-Instituts "ganz selten eine Partnerin zur Familiengründung" - was den Bevölkerungsschwund weiter beschleunige.
"Sie schrauben an ihren Mopeds herum, statt an ihrer Freundin" - mit dieser Formulierung beschreibt die "Sächsische Zeitung" die Lage der jungen Männer etwa im Landkreis Riesa-Großenhain. Während die Mädchen, wild auf den Westen, teils sogar als Kellnerinnen in Österreich und in der Schweiz jobben, lungern die Jungs mancherorts, die Pulloverkapuze ins Gesicht gezogen, mit der Bierdose in der Hand im Bushäuschen herum und reißen Zoten.
Schon heute kommen in den neuen Ländern auf 100 Männer im Schnitt gerade mal 84 Frauen, im thüringischen Ilm-Kreis nur noch 78 - dort geht rechnerisch fast jeder vierte Mann leer aus. Und die Schieflage wird noch dramatischer, weil sich die Geburtenzahl im Osten 1990 schlagartig halbiert hat. "Was da auf uns zukommt, ist wie ein Hurrikan, der auf die Küste zurast," sagt der Chemnitzer Soziologieprofessor Bernhard Nauck: "In sechs bis sieben Jahren werden sich im Osten zwei Männer um eine Frau bemühen müssen, das ist sicher."
Die Regel, dass junge Frauen unattraktive Regionen meiden, bestätigt sich auch im Westen. So haben bajuwarische Mannsbilder an der bayrischen Ostgrenze und im Donauried deutlich schlechtere Chancen, eine Partnerin zu finden, als im Münchner oder Nürnberger Umland. "Bislang ungeklärt" sei, schreibt das Berlin-Institut, "welche Folgen stark männerlastige Bevölkerungsstrukturen für eine Gesellschaft haben" - vor allem wenn die "überzähligen Männer häufig arbeitslos, schlecht ausgebildet und sozial unterprivilegiert sind".
Wetttrinken in der Depressionszone
Die "Vermännlichung" einer Region, glaubt der Dresdner Soziologe Wolfgang Engler, führe bei den Zurückgebliebenen dazu, "dass man sich gegenseitig in seiner Perspektivlosigkeit noch bestätigt" - Tenor: "Aus uns kann nichts werden."
Im Bauwagen der Dorfjugend, im Vereinshaus der Feuerwehr, im Clubheim der Motorradfreunde wird der Frust ertränkt, nicht selten beim "Wetttrinken bis zur Alkoholvergiftung", wie die Ex-Bundesdrogenbeauftragte Marion Caspers-Merk klagt. Mitunter dröhnen dazu die Böhsen Onkelz aus dem Rekorder: "Deutsche Frauen, deutsches Bier, Schwarz-rot-gold, wir stehn'n zu dir."
Statistiken zeigen: Vor allem in den Depressionszonen mit überdurchschnittlich hohem Anteil unfreiwilliger Singles fließt der Alk in Strömen. Während in Ländern wie Bayern und Baden-Württemberg nur fünf beziehungsweise sechs Gramm pro Person und Tag verzehrt werden, ist die durchschnittliche Alkohol-Ration in Brandenburg (12 Gramm), Sachsen-Anhalt (12,5 Gramm) oder Mecklenburg-Vorpommern (14,5 Gramm) doppelt oder dreimal so hoch.
Dort flüchten sich die Zurückgebliebenen auch mehr als anderswo in exzessiven Fernsehkonsum. In Sachsen-Anhalt, einem Land mit fast 21 Prozent Arbeitslosigkeit, sitzen die Menschen am längsten vor der Glotze - pro Tag 275 Minuten, macht pro Jahr sage und schreibe 2,3 Monate TV total und nonstop.
In den neuen Ländern mit ihrem "Männerproletariat" liege aber auch die Kriminalitätsrate, bezogen auf die Einwohnerzahl, höher als im Westen, warnt Forscher Klingholz. Besonders hoch ist der Anteil der jugendlichen Straftäter.
"Hier im Osten brennt die Luft", spürt der Greifswalder Dozent Wolfgang Weiß; der Männerüberschuss lasse sich "auch nicht durch verordnete Homosexualität ausgleichen", sagt er sarkastisch. "Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, wohin der Testosteronüberschuss in Zukunft führen wird," kommentierte die "FAZ".
Als Sozialwissenschaftler die Schrumpfungsfolgen in der sächsischen Stadt Weißwasser analysierten, die seit 1990 ein Drittel ihrer Einwohnerschaft verloren hat, stießen sie in der Restbevölkerung vor allem auf Apathie und Trostlosigkeit. Auf die lokale Arbeitslosenquote von 22 Prozent reagierten die ehemals werktätigen Plattenbau-Bewohner, die in der DDR immerhin noch verbal als "führende Klasse" hofiert worden waren, mit "kognitiver Einigelung".
Typische Äußerungen: "Die ganze Gegend ist heute schon an den Westen verraten und verkauft worden." - "Die deutsche Einheit wird es wohl nie geben. Hass zwischen Ossis und Wessis." - "Ein Staat gegen die kleinen Leute, schlimmer als bei Honecker. Alle Ostdeutschen haben Wut im Bauch."
Politisch führt das allgegenwärtige Gefühl des Gekränkt- und Abgehängtseins in Randregionen wie dem Erzgebirge (Volksmund: "Schmerzgebirge") teils zur ostalgischen Verklärung der SED-Staates, teils geradewegs in den Rechtsradikalismus. Immer häufiger zielen in den Zonen mit gestörter Sexualökonomie die Aggressionen der alkoholisierten Zwangssingles auf Fremde - nicht zuletzt wohl auch aus Angst, Eindringlinge könnten den Einheimischen die ohnehin knapp gewordene Ressource Frau streitig machen.
Schrumpfende Regionen - Nährboden für Radikalismus?
Nirgendwo in Deutschland, außer im platten Schleswig-Holstein, registriert der Verfassungsschutz pro Kopf ähnlich viele rechtsradikale Gewalttaten wie in den ausblutenden neuen Ländern. "Rechtsextremismus - eine Begleiterscheinung in schrumpfenden Städten?" war schon das Thema einer Fachtagung in Berlin.
Pogromartige Ausschreitungen gegen Ausländer wie früher in Rostock-Lichtenhagen oder in Hoyerswerda machten, so die Erkenntnisse von Experten, kaum noch Schlagzeilen. Stattdessen dominiere auf dem Land die gewöhnliche, nahezu alltägliche Gewalt locker organisierter Kameradschaften gegen einzelne Fremde, aber auch gegen linksverdächtige Jugendliche.
Die Täter tragen heute statt Bomberjacke und Springerstiefel oft Zivil. Mancher entspreche, erklärt Jürgen Kanehl, Bürgermeister im vorpommerschen Wolgast, eher dem Bild vom idealen Schwiegersohn als dem Neunziger-Jahre-Rambo mit Glatze.
Das größte Problem sei nicht die absolute Zahl der Rechtsextremisten, glaubt der Berliner Schrumpfungsexperte Philipp Oswalt. Mehr Sorge bereiten ihm die "fehlenden gesellschaftlichen Abwehrkräfte" in den Abwanderungsregionen, die oft auch von allen guten Geistern verlassen scheinen.
"Du siehst aus wie ein Jude"
Dazu zählen Dörfer wie das 600-Einwohner-Kaff Potzlow in der Uckermark - ein Ort, der 2002 zum Menetekel des moralischen Niedergangs in Schrumpfdeutschland wurde. Dort bemerkte ein Kommunalpolitiker über die Reaktion der Dörfler auf Rüpeleien der ortsansässigen Rechtsradikalen: "Da traut man sich doch schon lange nicht mehr, was dagegen zu sagen." Eine Sozialarbeiterin gestand unter Tränen ihre Ohnmacht: "Die Gesellschaft verroht immer mehr."
Erst hatte einer aus dem Ort in einer Nachbarstadt einen Afrikaner zusammengeschlagen. Dann quälte er mit anderen jungen Rechtsradikalen einen 17-jährigen Kumpel bestialisch zu Tode, bevor sie seinen Leichnam in eine Jauchegrube warfen - ihnen hatte die Frisur des Opfers nicht gefallen: "Du siehst aus wie ein Jude."
Als 150 ortsfremde Antifa-Aktivisten mit Lautsprecherwagen in Potzlow einfielen, um die Mordtat anzuprangern, hielten angereiste Reporter die Reaktion von Dörflern fest: "Fahren wir nach Berlin, wenn dort einer ermordet wird?" - "Ein bisschen rechts denkt doch jeder." - "Da wird doch ein Pups zu einem Donnerschlag aufgeblasen."
Typisch für die Mentalität, die in den Schrumpfregionen aufkeimt, mögen Extremfälle wie Potzlow nicht sein. Symptomatisch ist eher schon das Wahlverhalten, das in den Abwanderungsgebieten stärker zu Tage tritt als anderswo: Kaum zufällig erzielten gerade dort nicht nur PDS-Kandidaten, sondern auch die radikalen Rechten bei den Landtagswahlen im vorigen Jahr Rekordwerte.
In Brandenburg kam die DVU auf 6,1 Prozent. In Sachsen ist die NPD mit 9,2 Prozent seither fast so stark wie die SPD. Dort votierten 20 Prozent der männlichen Erstwähler für die radikale Rechte, im westdeutschen Schrumpfland an der Saar immerhin 14 Prozent.
Die "ugly citizens" können "den Osten wegreißen"
Solche Resultate geben, ebenso wie die extrem niedrige Beteiligung von Jungwählern, Wahlanalytikern zu denken. "Die psychologische Wirkung des Wegzugs insbesondere jüngerer Ostdeutscher in den Westen kann kaum noch hoch genug eingeschätzt werden", urteilt die Allensbach-Forscherin Renate Köcher.
Das extreme Wahlverhalten in diesen Landstrichen, meint auch der Dresdner Soziologe Engler, entspringe dem "Gefühl, verlassen, abgekoppelt zu sein". Für diesen Wählertypus hätten die Angelsachsen den Begriff ugly citizen geprägt: Gemeint ist der hässliche Bürger, "der sich gerade noch politisch äußert, aber in einer Art, die schon eine Verwerfung des politischen Systems ist".
Wenn sich gleich "ganze Regionen in Verzweiflung, Depression und Radikalisierung verabschieden", werde das, meint Engler, fatale Folgen haben: "Das kann den Osten wegreißen."
Dieses "Grundgefühl der Zweitklassigkeit", sagt SPD-Chef Matthias Platzeck, habe auch schon bei den Anti-Hartz-Protesten vorgeherrscht, die in den schrumpfenden Provinzen den meisten Zulauf hatten. Wenn der Trend anhalte, warnte der Sozialdemokrat bereits voriges Jahr, könnten die benachteiligten Regionen "stimmungsmäßig" mehr und mehr aus Deutschland herausrutschen. Platzeck: "Die Demokratie als Grundlage unserer Gesellschaft verliert - und zwar gravierend - an Zustimmung."
Im dritten Teil lesen Sie, warum Immigration für kein Patentrezept ist und warum ein Forscher von demografischer Ausbeutung und neuem Kolonialismus spricht
Verstärkte Immigration kein Patentrezept
Weil antidemokratische Ressentiments sich häufig mit Fremdenfeindlichkeit paaren, scheint in vielen Schrumpfregionen auch der Ausweg verstellt, den Fortzug von Deutschen durch Zuzug von Ausländern zu kompensieren - ein ohnehin fragwürdiges Konzept.
Zwar wäre massenhafte Immigration ganz im Sinne des Zuwanderungsrats, der schon 2004 unter Vorsitz der CDU-Politikerin Rita Süssmuth der Bundesregierung die gezielte Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte empfohlen hat. Ohne Zuwanderung, so das Gremium, werde das Arbeitskräfteangebot in der Bundesrepublik ab 2010 stark einbrechen und bis 2040 von derzeit 45,3 Millionen auf nur noch 26,7 Millionen Menschen absacken.
Eine Patentlösung für die Schrumpfregionen sei verstärkte Immigration keineswegs, wenden dagegen politische Praktiker wie auch Regionalplaner ein. Weil es einen Großteil der Migranten in die Parallelwelten der Ballungsgebiete ziehe, würden sich dort nur die ohnehin beträchtlichen Integrationsprobleme verschärfen, ohne dass dem ländlichen Raum nennenswert geholfen wäre.
In Berlin zum Beispiel scheint es für die inzwischen von vielen Politikern geforderte "nachholende Integration" in manchem Viertel fast schon zu spät. Eine interne Studie des Polizeipräsidiums hat bereits in neun "Problemkiezen" bedrohliche Entwicklungen ausgemacht. Dort registrieren die Beamten "mafiose" Strukturen, "bewaffnete Gewalt" und eine "heranwachsende Frust-Generation", die "nach eigenen Regeln und Gesetzen lebt". Fazit: "Szenarien, die aus amerikanischen, englischen und französischen Großstädten beziehungsweise deren Ghettos bekannt sind", seien "auch hier vorstellbar".
An der Ruhr schrumpft alles - außer dem Ausländeranteil
Auch angesichts von bald fünf Millionen Arbeitslosen hatte schon voriges Jahr der seinerzeitige Innenminister Otto Schily die Zuwanderungsempfehlungen des Süssmuth-Gremiums mit spitzen Fingern entgegengenommen: Sie müssten mit "sehr, sehr großer Sorgfalt geprüft werden".
Die Städte und Gemeinden sehen in ungeregelter Zuwanderung sowieso ein Zukunftsproblem ersten Ranges. Weil vier von fünf Einwanderern derzeit keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, beruht laut Demografie-Professor Herwig Birg "die prekäre Finanzsituation der Kommunen nicht zuletzt auf der hohen Belastung durch Sozialhilfeausgaben für die großenteils nichtdeutschen Mitbürger"; in Hannover beispielsweise sind 40 Prozent der Sozialhilfeempfänger ausländischer Herkunft.
Besonders schnell wächst der Bedarf an "nachholender Integration", etwa an Deutschkursen für Ausländer, in jenen Städten, in denen alles schrumpft - außer dem Migrantenanteil. Nach einer Studie über "Bevölkerungsentwicklung und Sozialraumstruktur im Ruhrgebiet" werden in den kreisfreien Städten im früheren Kohlenpott, ausgenommen nur Bottrop, Mülheim und Hamm, "bereits im nächsten Jahrzehnt die Mehrheit der Bevölkerung im jungen Erwachsenenalter und die Mehrheit der Kinder ,Ausländer' sein beziehungsweise einen Migrationshintergrund haben".
Soll Deutschland die Arbeitselite Osteuropas abwerben?
Trotz der schon jetzt wahrnehmbaren Integrationsprobleme werde Deutschland ohne Immigration nicht auskommen, argumentiert "FAZ"-Herausgeber Frank Schirrmacher. Der "Methusalem"-Autor plädiert daher für eine gesteuerte "Zuwanderung aus verschiedenen Kulturkreisen - und eben nicht nur aus der islamischen Welt". Das gleiche wünscht sich, etwas verklausuliert, der sächsische Ministerpräsident Georg Milbradt, wenn er die Zuwanderung von Menschen fordert, "die keine Integrationskosten verursachen".
Auch der Hamburger Ex-Bürgermeister und Ost-Experte Klaus von Dohnanyi regt an, junge Mittel- und Osteuropäer - sofern sie zur "industriellen Arbeitselite" zählen und "gerne Deutsch lernen" - dafür zu gewinnen, den "großen und zum Teil entvölkerten Raum Ostdeutschlands mit seiner exzellenten Infrastruktur zu nutzen". Dabei solle die Bundesrepublik, so Dohnanyi, allerdings verfahren wie die traditionellen Einwanderungsländer, etwa die USA: "Die nehmen die Leute herein, die ihnen wirklich nutzen können - und das nutzt auch diesen Leuten." Experten sprechen von einer skilled immigration tüchtiger Fachleute.
Solchen Strategien widerspricht der Demograf Birg, der entschieden für eine Steigerung der deutschen Geburtenrate durch eine betont familienfreundliche Politik wirbt und der die Abwerbung fremder Eliten als "demografische Ausbeutung anderer Länder" und als "neuen Kolonialismus" verurteilt. "Wir wollen die Besten importieren und profitieren von Menschen, die anderswo eine Lücke hinterlassen", empört er sich: "Das ist desaströs."
"Brandenburg reicht bis Kamtschatka"
Gleichwohl glaubt auch der Hallenser Wirtschaftsforscher Peter Franz ("Regionalpolitische Optionen für schrumpfende Städte"), dass gerade die besonders schnell schrumpfenden Kommunen an der deutschen Ostgrenze "von einer Zuwanderung aus Osteuropa profitieren könnten". Andere Wissenschaftler wiederum warnen vor übertriebenen Hoffnungen.
"Kein einziges Land der Alten Welt kann sich aus dem eigenen Nachwuchs erhalten," sagt der Bremer Zivilisationsforscher Gunnar Heinsohn. Auch in Osteuropa seien die Geburtenzahlen in der letzten Dekade dramatisch gesunken. Polnische Frauen etwa hätten "mit 1,23 Kindern im Durchschnitt noch weniger Nachwuchs als die Mütter Brandenburgs", und auch Ukrainer, Weißrussen, Russen, Balten, Slowaken und Tschechen lägen "mit 1,2 bis 1,3 Kindern pro Frauenleben unterhalb der Reproduktionsgrenze" von 2,1 Kindern. Heinsohn: "Brandenburg reicht in Wirklichkeit bis Kamtschatka."
So wird sich wohl auch der polnische Beitrag zur Stabilisierung der deutschen Geburtenrate in Grenzen halten. Zwar sind schon jetzt polnische Frauen die begehrtesten ausländischen Ehepartnerinnen deutscher Männer - dennoch sind die absoluten Zahlen ernüchternd: Im vorigen Jahr heirateten gerade mal 4900 Deutsche eine Polin.
Dennoch hat manch ein Bürgermeister an der deutschen Ostgrenze die Hoffnung nicht aufgegeben und schon begonnen, die dort besonders starken "Ängste vor Überfremdung" (Franz) zu überwinden - etwa in der potemkinschen Stadt Görlitz.
Görlitz bald zur Hälfte polnisch?
Links der Oder das ausblutende Stadtkleinod mit seinen 10.000 großenteils sanierten, aber leer stehenden Wohnungen; rechts der Oder, gleich vis-à-vis, das polnische Zgorzelec mit massiver Wohnungsnot - liegt da nicht nahe, was dem langjährigen Oberbürgermeister Rolf Karbaum vorschwebte: die Menschen aus Westpolen zum Umzug nach Ostdeutschland zu animieren? "Die Polen sind unsere letzte Hoffnung", glaubt Karbaum. "Wird Görlitz", fragte bereits die konservative "Welt", "in 20 Jahren zur Hälfte polnisch sein?"
Auch die sächsische Landesregierung setzt bei ihren Bemühungen, wieder Leben in die sterbenden Städte zu bringen, offen auf die Macht der Liebe: Auf ihrer Homepage weist sie darauf hin, dass in diesem Bundesland laut Statistik 70.000 Frauen zwischen 18 und 40 Jahren fehlen, während im benachbarten Westpolen Männermangel herrsche.
Die Sprachbarriere zwischen Deutschen und Polinnen sei "zwar ein Hindernis, aber überwindbar", zitiert die regierungsamtliche Website eine deutsch-polnische Kontaktagentur aus Görlitz. In der Stadt sei bereits jetzt zu beobachten, dass "deutsche Männer durch die Straßen laufen, mit der einen Hand die polnische Freundin haltend, mit der anderen das Wörterbuch".
Lesen Sie in der nächsten Folge:
Der Lockruf der Leere - Was tun mit einem Raum ohne Volk? Planer fahnden nach Ideen für ein verlassenes Land.
Zu den ersten beiden Teilen der Serie:
1. Verlassenes Land, verlorenes Land
2. Keine Zukunft für die Kuhzunft