
Oktoberfest Maßlos in München


Frühlingsfest auf der Theresienwiese: Wie passt ein Prosit der Gemütlichkeit in Zeiten der Not?
Foto: IMAGO/Wolfgang Maria WeberNach langer Zeit des Stillstands drehen sich vielerorts die Riesenräder wieder. Auf der Münchner Theresienwiese, wo ich vor vier Monaten in einem der diversen Impf- und Testzelte meinen Coronabooster erhalten habe, stehen nun Festzelte zwischen Holzbuden und blinkenden Fahrgeschäften. Das Frühlingsfest ist die kleine Schwester des Oktoberfests und das erste richtige Volksfest der Stadt seit Beginn der Coronapandemie. Die glitzernde Silhouette des Riesenrads strahlt mich auf meinem Heimweg jedes Mal charmant an. Besucht habe ich die kleine Wiesn bislang aber nicht.

Die Schatten der Vergangenheit
Vor dem Ukrainekrieg lehnten die Grünen Waffenlieferungen in Krisengebiete ab. Jetzt nicht mehr. Waren sie nie eine so friedliebende Partei, wie alle glaubten?
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Die Virendichte im Bierdunst wäre mir egal. Mich quält die Frage, ob man in Zeiten wie diesen feiern darf. Wie soll man sich am Prosit der Gemütlichkeit, an der frohen Botschaft der Lebkuchenherzen oder an einer Fahrt in der Geisterbahn erfreuen, wenn anderswo der Horror eines Völkermords Realität ist? In anderen Städten dieses Landes kann man sein Gewissen vielleicht mit dem Argument beruhigen, dass während der Kriege in Syrien, Jugoslawien, Irak oder Afrika auch keine Kirmesbuden geschlossen oder Autoscooter abgebaut wurden.
München aber ist nicht nur die Heimat des größten Volksfestes der Welt, sondern auch die Partnerstadt Kiews. Die Klitschko-Brüder waren vor Ausbruch des Krieges gern gesehene Gäste auf den Bierbänken der diversen Promizelte auf der Wiesn. Nun kämpfen sie ums eigene Überleben und das ihrer Landsleute, während manche Bürger Münchens bei Preisen von bis zu 12,80 Euro pro Maß nach einer Bierpreisbremse verlangen.
Allerdings gehört Bier in Bayern zu den Grundnahrungsmitteln. Und dass deren Verteuerung Familien oder Rentner belastet, kann niemand bestreiten. Die Verbundenheit im gemeinsamen Rausch mag als Mittel zur Völkerverständigung überschätzt werden, systemrelevant ist das gemeinsame Feiern womöglich schon. Deutschland wird noch sehr viel mehr Durchhaltekraft als bisher beweisen müssen, um mit steigenden Energiekosten oder Arbeitslosenzahlen fertig zu werden. Der Besuch eines Volksfestes ist sicher nicht die schlechteste Idee, um sich Lebensfreude und Opferbereitschaft zu erhalten. Mein Verzicht auf Rummel und Riesenrad spart nicht einmal russisches Gas, denn das Münchner Frühlingsfest wird mit Ökostrom betrieben.
Den ukrainischen Kämpfern bringt es wenig, dass auch der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter seine Teilnahme am Frühlingsfest abgesagt hat. Wenn ein SPD-Bürgermeister lieber sein eigenes Volksfest boykottiert, weil »Menschen in diesem brutalen Krieg sterben«, statt den eigenen SPD-Kanzler zu mehr Panzerlieferungen zu drängen, wirkt das sogar heuchlerisch. Die Ukraine braucht Waffen, keine Betroffenheit.
Die Leichtigkeit des eigenen Seins kann einem manchmal unerträglich ungerecht vorkommen. Letztlich ist meine fehlende Freude am Frühlingsfest aber ein Luxusproblem, das vermutlich jede nach München geflüchtete Ukrainerin liebend gern gegen ihre Sorgen eintauschen würde.