
Osteuropa und die EU Viktor Orbán hat die Hosen voll


»Was habe ich getan?«, steht auf einem Plakat bei Protesten gegen Orbáns Politik in Budapest im Oktober 2016
Foto: Vadim Ghirda / APDie Sonne strahlte niemals heller über Brüssel als in den Jahren, bevor die Osteuropäer aufgenommen wurden. Damals wollte die Europäische Kommission die »Regierung Europas« werden, wie ihr neuer Präsident, Romano Prodi, 1999 verhieß. Und die Mitgliedstaaten betrauten diese Kommission damit, den alten Kontinent durch die Aufnahme von mehr als einem halben Dutzend ehemaliger Ostblockstaaten wieder zu vereinen.
Der deutsche »Erweiterungs-Kommissar« visitierte die eifrig sich bewerbenden Kandidaten-Staaten, und als ich einmal als Zeitungskorrespondent mit ihm reiste, wurde bei der Landung in Slowenien das Fernsehprogramm unterbrochen, um seine Ankunft zu vermelden.
So waren damals viele Tage für Günter Verheugen. Alles schien hell und groß.
Weil nahezu alle Osteuropäer dringend in die EU wollten, war Brüssels Macht im Osten gottgleich. Heute indes ist sie für die Führungen von Polen und Ungarn des Teufels.
Aus Günter Verheugens »big bang« ist irgendwie »big Mist« geworden, und die Osterweiterung sieht aus wie ein verdammter Denkfehler: Dass jeder Teil Europas unbedingt auch Mitglied der Europäischen Union sein müsse. Dabei ist das eine geografisch und das andere politisch. Das eine erklärt sich aus der unabänderlichen Geschichte, das andere aus einer immer neu formbaren Gegenwart.
Dass beides ein und dasselbe sei, haben die westeuropäischen EU-Regierungen übrigens mindestens so fest geglaubt wie die osteuropäischen. »Können Sie sich einen deutschen Bundeskanzler vorstellen, der Polen bei einer EU-Osterweiterung außen vor lässt?«, fragte der damalige Kanzler Gerhard Schröder, und sein Vorgänger Helmut Kohl hätte es genauso gemacht. Deshalb soll es nicht darum gehen, wer »Schuld« an diesem Irrtum hat.
Es würde an dieser Stelle auch zu weit führen, alle Rechtshändel und Grundsatzstreitigkeiten aufzuzählen, welche die Europäische Kommission mit Ungarn und Polen derzeit auszutragen hat und wie sehr sie dafür von Ungarns Viktor Orbán oder Polens Jarosław Kaczyński verhöhnt wird.
Es würde ebenfalls zu weit führen, den verästelten Eskalationsweg zu beschreiben, auf dem ohnedies eher die Hölle zufriert, als dass die EU aufhört, den Regierungen in Warschau und Budapest jedes Jahr rund 20 Milliarden Euro netto in die Taschen zu schaufeln.
Sehr einfach und klar ist indes: Demokratisch gewählte Regierungen haben in Polen und Ungarn die demokratischen Institutionen so sehr verändert, dass die beiden Staaten heute nicht neu in die EU aufgenommen würden. Ob es der nationalistische Katholizismus in Polen oder der völkische Populismus Ungarns ist, der Gewaltenteilung und Bürgerrechte zersetzt – zu Europa mag beides leider gehören, doch in der EU haben beide nichts zu suchen. Mit solchen Mängeln käme man nicht durch den Beitritts-TÜV, denn Vertragstreue und die Unabhängigkeit der Justiz sind das Wesen der Europäischen Union. Sie besteht aus nichts anderem.
Als Viktor Orbán vor einigen Wochen eine große Anzeige in »Bild« schalten ließ, in der er gegen beides wütete, da dachte ich mir darum: Jetzt ist er verrückt geworden. Auch für seine Verhältnisse war es ein urplötzlicher Hassorgasmus gegen Kommission und Parlament, die er für den Untergang des Abendlandes hält, zumindest des Abendlandes in der Viktor-Orbán-Version mit makellosem Volkskörper, »illiberaler Demokratie« (his own words) und einem filmreifen David-gegen-Goliath-Komplex. Allerdings watschte Orbán da einen Popanz nach dem anderen ab: Seine Vorgänger oder er haben fast alles Kritisierte doch selbst mitbeschlossen.
Inzwischen jedoch meine ich, Viktor Orbán ist nicht verrückt, sondern er hat Angst. Genauso wie sein polnischer Bruder im Geist sieht er sich als Vollstrecker von Volkes Wille, den er notfalls auch über das Recht stellt. Sein mittelalterliches Anti-Homosexuellen-Gesetz will er jetzt den Bürgern zur Abstimmung vorlegen, weil er davon ausgeht, dass es bei einer geringen Wahlbeteiligung durchkommt.
Was aber, wenn es nun gelänge, das Volk in Ungarn und Polen auch über die EU-Mitgliedschaft abstimmen zu lassen? Sie wären mit ihren eigenen Waffen geschlagen, denn wie sollten die beiden Führungen ablehnen, ohne das Gesicht zu verlieren, des Populisten wichtigstes Körperteil?
Klar: Niemand zwingt die Polen und Ungarn, Mitglied in einem Klub zu bleiben, wenn sie – wie ihre Regierungen – dessen Regeln verachten und nicht befolgen mögen. Aber das wollen wir erst mal sehen: Vielleicht finden zum Beispiel die Ungarn es mehrheitlich dann doch wichtiger, in der EU zu bleiben, als Homosexualität aus ihren Schulbüchern zu tilgen.
Ich denke wirklich, Viktor Orbán könnte man beim Populisten-Portepee packen. Ich kenne ihn nicht gut, aber im Laufe der Jahre durfte ich ein paar Mal mit ihm diskutieren oder ein Interview führen. Das Wichtigste schien ihm stets zu sein, dass alles, was er tut, folgerichtig und scharfsinnig stringent ist.
Darum: Put your money where your mouth is, Mr Orbán. Wenn Volkes Wille über allem steht, dann lassen Sie Ihr Volk auch über die EU das letzte Wort sprechen, oder haben Sie Angst vor der Antwort? Und wenn Ihr Volk – worauf ich wetten würde – in der EU bleiben möchte, und zwar in der EU, wie sie ist und nicht wie Sie sie gerne hätten, dann stehen Sie bitte nicht länger im Weg rum.