Stimmrecht mit 16 Vorbild Österreich - warum Jugendliche wählen dürfen sollten

Schülerproteste in Hamburg
Foto: Adam Berry/ Getty ImagesSPIEGEL ONLINE: In Deutschland gehen momentan jeden Freitag Tausende Schülerinnen und Schüler auf die Straße, um für den Klimaschutz zu demonstrieren. Kürzlich forderte Justizministerin Katarina Barley, das Wahlrecht mit 16 einzuführen. Wäre das nicht nur fair?
Bernhard Heinzlmaier: Das ist natürlich völliger Blödsinn. Anhand von ein paar Demonstrationen von Gymnasiasten darauf zu schließen, dass die Jugend politisch aktiv sei, bedeutet, die gesamte Forschung der letzten 15 Jahre zu ignorieren. Es ist eine absolute Minderheit, die für das Klima protestiert. Das sind Jugendliche aus dem oberen Gesellschaftsdrittel. Die Mitte und die sozialen Unterschichten interessieren sich überhaupt nicht für den Klimawandel. Die Proteste als Grund für die Senkung des Wahlalters heranzuziehen, ist skurril.
SPIEGEL ONLINE: Glauben Sie den Schülern immerhin, dass sie nicht nur die Schule schwänzen wollen?
Heinzlmaier: Sicher meinen die das ernst. Das sind Kinder aus dem Bürgertum, wo die Eltern Geld haben und selbst ökologisch bewusst leben. Die Kinder gehen dann am Freitag demonstrieren und freuen sich, wenn die Eltern und Lehrer mit ihnen zufrieden sind. In diesem Alter sind die Jugendlichen hochmoralische Wesen, weil sie noch keine politischen Enttäuschungen erlebt haben.
SPIEGEL ONLINE: Hört sich so an, als hielten Sie nicht viel von demonstrierenden Schülern.
Heinzlmaier: Doch, sicher, ich finde das auf jeden Fall unterstützenswert. Aber von den oberen zehn Prozent, die hier auf die Straße gehen, auf alle anderen zu schließen und ihnen deshalb das Wahlrecht zu geben, ist einfach nicht korrekt.
SPIEGEL ONLINE: Seit über zehn Jahren dürfen in Österreich Jugendliche ab 16 Jahren an allen Wahlen teilnehmen. Entscheiden die so linksliberal und grün, wie man es den Jungen gern unterstellt?
Heinzlmaier: Nein, gar nicht. Junge Facharbeiter und Auszubildende wählen sogar mehrheitlich FPÖ, also die Rechtspopulisten. Schüler, die das Abitur anstreben, wählen dagegen grün. Das Meinungsklima ist stark polarisiert.
SPIEGEL ONLINE: Was begeistert so viele junge Österreicher an rechtspopulistischen und konservativen Parteien?
Heinzlmaier: Das liegt am mangelnden Respekt des linksliberalen Milieus gegenüber der Lebenswelt der Mittel- und Unterschichten. Da diagnostiziert man 15 Mal am Tag: Die hören die falsche Musik, die wählen die falsche Partei, die sehen das falsche Fernsehprogramm. Und wundert sich dann, dass ganz einfach die Verbindung zu diesen Milieus fehlt. Diese Verbindung können die Rechtspopulisten aufbauen. Sie sind weniger abstrakt, wirken mehr "down-to-earth", die Jugendlichen können mit ihrer direkten Sprache etwas anfangen.
SPIEGEL ONLINE: Der heutige Kanzler Sebastian Kurz fuhr vor einigen Jahren im Wahlkampf mit seinem "Geil-O-Mobil" vor - um nach eigener Aussage junge Menschen geil auf Politik zu machen. Ist so etwas nötig, um das politische Interesse von Jugendlichen zu wecken?
Heinzlmaier: Überhaupt nicht. Das war eine reine PR-Aktion. Das hat er auch recht schnell aufgegeben.
SPIEGEL ONLINE: Wie macht man es richtig?
Heinzlmaier: Das ist relativ einfach: Indem man den Jugendlichen die Möglichkeit gibt, sich mit einem Sympathieträger zu identifizieren. Auch hier ist Kanzler Kurz ein passendes Beispiel. Kurz ist ein attraktiver junger Mann, er kommt gut bei den Frauen an. Und die jungen Männer schätzen ihn, weil er sehr jung eine Bombenkarriere hingelegt hat. Er hat sich durchgesetzt gegen eine verkrustete Parteikultur, gegen überhebliche Funktionäre, ihm wird der Charakterzug eines Kämpfers zugesprochen. Er ist anders als die anderen Politikerinnen und Politiker.
SPIEGEL ONLINE: Hilft es auch, das Wahlalter zu senken, wenn man Jugendliche für Politik begeistern will?
Heinzlmaier: Die österreichischen Erfahrungen zeigen, dass die jungen Leute tatsächlich wählen gehen, wenn sie dürfen. Sie fühlen sich dazu verpflichtet, das sehen wir in unseren Studien. Vor allem im ländlichen Raum geht es darum, dass man sich im Wahllokal zeigt. Die Begeisterung für Politik ist dadurch aber nicht gestiegen, vor allem nicht in den Milieus, wo es wichtig gewesen wäre. In den unteren Sozialschichten und in der Mittelschicht sind Menschen nach wie vor nicht begeistert von der Politik.
SPIEGEL ONLINE: Eine Befragung von österreichischen Erstwählern im vergangenen Jahr zeigte, dass 90 Prozent die Wahl nutzten und ihre Stimme abgaben - damit lagen sie deutlich über der durchschnittlichen Wahlbeteiligung. Sind die Jungen doch die besseren Wähler?
Heinzlmaier: Wir dürfen eines nicht vergessen: Wenn man 16 ist, will man vor allem eines - erwachsen sein. Wählen gehen ist dann ungefähr so, wie wenn man das erste Mal öffentlich eine Zigarette rauchen darf. Das ist ein Symbol für den Übergang vom Kind zum Erwachsenen. Deshalb gehen die Jugendlichen zur Wahl und nutzen ihr Recht. Bessere Wähler sind sie deshalb aber nicht.
SPIEGEL ONLINE: Würden Sie Deutschland empfehlen, das Wahlrecht ab 16 einzuführen?
Heinzlmaier: Ja, auf jeden Fall. Die jungen Menschen sind heute mit 16 viel reifer als Jugendliche in früheren Zeiten. Sie können durchaus Entscheidungen treffen, die von der Qualität her der Entscheidung eines 25-Jährigen entsprechen. Es ist auch ein Zeichen der Anerkennung, wenn man ihnen die Möglichkeit gibt zu wählen.