Ministerpräsident in der Krise Der Fall Niedersachsen

Was ist los in Niedersachsen? Eine Überläuferin wechselt die Partei, Rot-Grün verliert die Mehrheit. Dann wird bekannt: Volkswagen schrieb eine Regierungserklärung von Ministerpräsident Weil um. Purer Zufall?
Stephan Weil

Stephan Weil

Foto: Heiko Lossie/ dpa

Eigentlich wollte Niedersachsens Ministerpräsident Krisen in Siege verwandeln. Obwohl sein Land Anteilseigner von VW ist, ging Stephan Weil (SPD) den Autokonzern ungewohnt hart an: Beim Dieselgipfel nannte er den Abgasskandal ein "Krebsgeschwür" und forderte Konsequenzen. Weil, der Aufklärer, war die Botschaft.

Dann zerbrach seine Regierung überraschend am Seitenwechsel einer frustrierten Grünen-Abgeordneten. Weil trat nicht zurück, sondern sprach sich für rasche Neuwahlen aus. Er verteidigt furchtlos sein Amt, sollte das zeigen.

Doch statt unruhige Zeiten für sich nutzen zu können, hat Weil nun die größte Krise seiner Amtszeit am Hacken. Wieder geht es um VW und dreckige Diesel, nun aber steht seine Nähe zum wichtigsten Jobgaranten des Bundeslandes im Fokus.

Weil sitzt als Vertreter der Landesregierung im Aufsichtsrat von VW - wie schon frühere Ministerpräsidenten von SPD und CDU. Weil wird allerdings vorgeworfen, er habe sich von VW konkret politisch steuern lassen. Festgemacht wird der Verdacht an einer Regierungserklärung von 2015. Der Konzern soll die Rede umgeschrieben und kritische Passagen gegen VW deutlich entschärft haben, schreibt die "Bild am Sonntag" unter Berufung auf einen anonymen VW-Informanten.

Weil verteidigt sich, Grüne greifen ihn an

Die Staatskanzlei in Hannover weist das zurück und sagt: Ja, der Text ging zur Prüfung an VW, aber nur für einen Faktencheck. Von Einflussnahme auf die Politik könne keine Rede sein. Mitarbeiter der Landesregierung seien sogar per Rundmail gebrieft worden, dass VW explizit nur zu juristisch relevanten Vorgängen Stellung nehmen dürfe, berichtet das Redaktionsnetzwerk Deutschland.

2015 war der VW-Dieselskandal ganz frisch, jede falsche oder rechtlich heikle Formulierung hätte Schadensersatzklagen nach sich ziehen können, betont Weil. Er würde "in einer vergleichbaren Situation heute ganz genauso handeln".

Trotz seiner Verteidigung bleibt für den Moment hängen, dass sich die Probleme für den ohnehin angeschlagenen SPD-Ministerpräsidenten ballen. Der Fall Niedersachsen hat nicht nur regionale, sondern bundesweit Auswirkungen:

Im Wahlkampf heißt es: Jeder gegen jeden. Vorgezogene Neuwahlen in Niedersachsen sind wahrscheinlich, wenn auch formal noch nicht angesetzt. Die Vorwürfe könnten Weil nun den Landtagswahlkampf vermasseln. Die politischen Gegner nutzen die Angriffsfläche voll aus. Rücktrittsrufe von der CDU gab es schon nach dem Verlust der rot-grünen Regierungsmehrheit am Freitag, die FDP sprach am Sonntag von Täuschung. Selbst die Grünen, die mit der SPD in Niedersachsen regieren, hauen voll drauf: Der Niedersachse Jürgen Trittin warf Weil vor, er habe sich vom Volkswagenkonzern beeinflussen lassen. "Stephan Weil scheint einem Missverständnis aufgesessen zu sein", kommentierte er sarkastisch. "Ein Aufsichtsrat heißt nicht Aufsichtsrat, weil er sich der Aufsicht des Vorstands unterwirft".

Die Auto-Affäre kommt nicht zur Ruhe: Auf Bundesebene sollte der Dieselgipfel die Debatte um giftige Stickoxide, Fahrverbote und Kartellvorwürfe beruhigen. Jetzt zieht sich das Thema in den Bundestagswahlkampf, der im August offiziell beginnt. Bitter ist das für die SPD, eigentlich wollte man die Union vor sich hertreiben. Doch während CSU-Verkehrsminister Alexander Dobrindt weiter sein Auto-Kuschelprogramm abspult und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sich weitgehend öffentlich heraushält, spricht die Republik in Sachen Autokrise plötzlich nur noch über einen SPD-Ministerpräsidenten.

Viele offene Fragen

Seltsam mutet der Zeitpunkt der Veröffentlichung an: Warum gerieten die Details der Regierungserklärung zwei Jahre später in Umlauf? Ausgerechnet jetzt, da Weil sein Amt als Ministerpräsident verteidigen muss? Dann wurden sie auch noch mutmaßlich aus VW-Kreisen gestreut - also aus dem Konzern, den Weil mit seinem Pochen auf milliardenschwere Nachrüstungen verärgert haben dürfte.

Außerdem wurde besagte Rede schon vor einem Jahr im Wirtschaftsausschuss des Landesparlaments besprochen. Damals beanstandete niemand die Prüfung durch VW öffentlich. Die Landes-FDP sagt dazu, das Ausmaß des Umschreibens sei erst durch die "BamS"-Veröffentlichung klar geworden.

Tatsächlich zeigen die nun publik gemachten Textpassagen, dass in Weils Rede ordentlich herumoperiert wurde. Offenbar wurden auch Sätze gestrichen, die eine rein politische Einschätzung enthielten. Ein Beispiel, das es nicht in die Endversion geschafft haben soll: "Die gegen VW erhobenen Betrugsvorwürfe wiegen schwer."

Unbestritten ist, dass Weil zu Beginn des VW-Skandals Reden von der Konzernzentrale gegenlesen ließ. Das haben beide Seiten bestätigt. Die "Praxis der Vorprüfung", wie Weil es selbst ausdrückt, sei inzwischen beendet.

Aber lief alles so sauber ab, wie es der SPD-Ministerpräsident beteuert? Der Grüne Trittin sieht Weil in der Bringschuld: "Er sollte beide Fassungen der Rede veröffentlichen, damit Klarheit über den Vorgang geschaffen wird", sagte er dem SPIEGEL.

Für Sven-Christian Kindler, Landesgruppensprecher der niedersächsischen Grünen im Bundestag, ist der Fall Ausdruck eines grundsätzlichen Problems. Die "jahrelange Kumpanei" von Politik und Autokonzernen gehe weit über Weil hinaus, sagt er.

In der Vergangenheit wechselten immer wieder Spitzenpolitiker als Cheflobbyisten in die Autoindustrie. Das haben SPD und CDU in der Tat gemeinsam.

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