Wachsende Kritik an der Kanzlerin Merkel und die bösen Buben

Ein Tabu bricht: Bislang schien Angela Merkel unangreifbar, doch fast 100 Tage nach dem Start von Schwarz-Gelb wächst auch in der Union die Kritik am präsidialen Stil der Kanzlerin - und die wirklich schweren Zeiten stehen ihr noch bevor.
Von Christoph Schwennicke
Kanzlerin Merkel: Der Schutzburg beraubt

Kanzlerin Merkel: Der Schutzburg beraubt

Foto: ddp

Berlin - Bald sind es hundert Tage, die Angela Merkel das Land in einer neuen Koalition aus Union und FDP regiert. Und was erst in den Nebeln des Neuanfangs lag, zeichnet sich zunehmend klarer in den Konturen ab: Angela Merkel geht es wie der unvergessenen Judy Garland als Dorothy im "Zauberer von Oz", deren Haus im Mittleren Westen in die Lüfte getragen wird und die sich in einer anderen Welt wiederfindet. "We're not in Kansas anymore!" ruft sie aus, als sie aus dem Fenster schaut und nach einiger Zeit feststellt, dass sie in der Märchenwelt von Munchkinland gelandet ist, bei bezaubernden Munchkins, aber auch bei einer bösen Hexe.

Die neue Welt der Angela Merkel ist keine schöne neue Welt. Sie ist vielleicht keine Welt voller Hexen, aber voller bösen Buben. Merkel ist ihrer Schutzburg, der Großen Koalition, beraubt. Die Große Koalition bot der Kanzlerin drei große Vorteile:

  • Erstens hatte sie es mit vier bis fünf sehr guten und sehr erfahrenen Spitzenpolitikern der SPD zu tun, die über Regierungserfahrung verfügten, über den Schaumkronen der tosenden SPD solide Politik mit ihr machten und Absprachen einhielten. Das galt für die Schlüsselminister Peer Steinbrück, Frank-Walter Steinmeier und Ulla Schmidt ebenso wie für die jeweiligen SPD-Vorsitzenden. Ja, selbst auf Bärbeiß Peter Struck, der sie für ihre Führungsschwäche verhöhnte und sich einen Gerhard Schröder zurückwünschte, selbst auf ihn und seine solide Zusammenarbeit mit dem Kollegen Volker Kauder konnte sie sich immer verlassen. Das ist ein erster Unterschied zu jetzt.
  • Zweitens bot ihr die SPD ein breites Kreuz, hinter dem sie sich vor ihren eigenen Leuten jederzeit prima verstecken konnte. Gab es ein Thema, bei dem sie eine Meinung hatte, die von der ihrer Leute abwich, konnte sie treuherzig die Augen aufschlagen, in Richtung SPD zeigen und wie der Fischer im Märchen seufzen: Ich würde ja gerne, "aber meine Frau, die Ilsebill, die will nicht, als ich wohl will!"
  • Drittens handelte es sich bei aller allgemeinen Zerfledderung bei der SPD immer noch um eine eindeutige Volkspartei, die nicht das Partikularinteresse, sondern, pathetisch gesagt, ebenso wie die Union das Gemeinwohl im Blick hatte. Jedenfalls viel mehr als die FDP, die sich binnen weniger Wochen als beinahe schamlos offen agierende Klientelpartei entpuppt.

Die neuen äußeren Umstände, in denen sich Angela Merkel nun befindet, wirken sich auch aus auf ihre innerparteiliche Machtposition. Mit einem Mal wirkt die Kanzlerin nicht mehr so stark wie vorher. Manche fragen sich schon, ob man sie bisher womöglich eher überschätzt als unterschätzt hat.

Politik ist ein archaisches Instinktgeschäft. Innerparteiliche Kritiker merken, dass ein Tabu gebrochen ist oder dabei ist zu brechen. Früher gab es das Tabu, dass sich niemand in der Union offen gegen Merkel stellt, und es gab Josef Schlarmann. Schlarmann, Chef der CDU-Mittelstandsvereinigung, war über viele Jahre der einzige, der sich wieder und wieder traute, Merkel Widerworte zu geben. Er war in seiner Einsamkeit und seinem zur Rolle erstarrten Handeln und Reden aber relativ ungefährlich für die Kanzlerparteichefin.

Offen, direkt, konfrontativ, streitlustig

Inzwischen gibt es neben Josef Schlarmann noch Erika Steinbach und Martin Lohmann. Erika Steinbach hat mit Merkel dem Kampf um ihren Sitz im Beirat der Vertriebenenstiftung aufgenommen. Deren Versuch, ein Doppelspiel über die Bande der FDP zu spielen, wird durch die Beharrlichkeit von Frau Steinbach zunehmend entlarvt.

Martin Lohmann, Sprecher des von ihm maßgeblich initiierten Arbeitskreises Engagierter Katholiken in der CDU (AEK), zwingt Merkel dazu, über das C, das christlich Konservative in der CDU, zu sprechen.

Man muss weder die Ansichten von Herrn Lohmann noch die Unbeirrbarkeit von Frau Steinbach teilen oder für richtig halten. Aber fest steht, dass sich in der CDU eine Art von säkularer Aufklärung abspielt und die Unzufriedenen den Mut aufbringen, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen: offen, direkt, konfrontativ, streitlustig. Bisher gab es in der Union nur ab und an das vergiftete Kompliment des einen oder anderen Ministerpräsidenten. Diese verdruckste Kritik war schon die höchste Form der innerparteilichen Auseinandersetzung.

Es ist etwas im Gange in der Union

Jenseits dieser offenen Auseinandersetzungen hat sich der Ton verändert, in dem Unionisten bei informellen Zusammenkünften in Berlin über ihre Chefin sprechen. Der neue Tonfall ist von weit weniger Respekt getragen und von weniger Vertrauen in ihre Fähigkeiten. Und, ja, es wird auch unverhohlen gelästert. Das ist eine neue Entwicklung, die sich nur zum Teil aus dem normalen Umstand heraus erklärt, dass ein Kanzler oder eine Kanzlerin über die Jahre eine immer größer werdende Schleppe an Verprellten, Frustrierten und zu kurz Gekommenen hinter sich herzieht.

Hier ist mehr im Gange.

Angela Merkel ist politisch instinktsicher genug, diese Veränderungen wahrzunehmen. Solange sie sich nur in der Berliner Blase abspielen, hat sie nicht so viel zu befürchten. Es ist längst keine kritische Masse erreicht, die ihr gefährlich werden könnte. Die eigentliche Gefahr besteht darin, dass sich diese leisen Zweifel an ihr auch in der Bevölkerung festfressen. Ihr präsidialer Stil bleibt weiter beliebt, aber er muss auch Ergebnisse zeitigen - gute Ergebnisse, Ergebnisse, die mit den Wahlversprechen in Einklang zu bringen sind.

Im Augenblick läuft Merkel auf das Problem zu, Mitte des Jahres als eine Art von Wählertäuscherin dazustehen - wenn die Steuern nicht annähernd in dem Maße gesenkt werden können wie angekündigt und stattdessen die Abgaben aus dem Ruder laufen. Der flächendeckende, nicht paritätische Zusatzbeitrag bei den Krankenkassen ist da schon das Wetterleuchten eines nahenden Sturmes .

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