Stefan Kuzmany

Berlin-Wahl Die politisierte Hauptstadt

In Berlin haben so viele Bürger gewählt wie seit Jahren nicht mehr. Profitiert hat davon vor allem die AfD - und trotzdem ist das gestiegene Interesse gut für die Hauptstadt und die Demokratie.
Berliner Stadtansicht (Blick vom Potsdamer Platz)

Berliner Stadtansicht (Blick vom Potsdamer Platz)

Foto: JOHN MACDOUGALL/ AFP

Berlin hat gewählt - wird jetzt also alles besser? Oder zumindest irgendwie anders? Als Bewohner der Hauptstadt hat man sich längst abgewöhnt, der hiesigen Landespolitik mit mehr als bescheidensten Erwartungen zu begegnen. Ernsthaft glaubt wohl kaum jemand daran, dass der Hauptstadtflughafen unter einem rot-rot-grünen Senat schneller eröffnet wird als unter dem bisherigen rot-schwarzen, dass marode Schulen nun schlagartig saniert werden, die Mieten plötzlich sinken und die allgegenwärtigen Baustellen einen zügigen Abschluss finden.

Tatsächlich wird man weiter grimmig über Hundehaufen steigen auf dem Weg zu einer Bushaltestelle, dort die obligatorische Verspätung mit einer inneren Schimpftirade überbrücken, bis man dann endlich den Flughafen erreicht, um dieser dysfunktionalen Stadthölle für ein paar Tage zu entschweben, und dieser Flughafen wird bis auf Weiteres selbstverständlich Tegel heißen.

Und doch hat diese Wahl eine entscheidende Veränderung hervorgebracht. Gemeint ist damit nicht die Tatsache, dass nun, nach wochenlanger Plakatierung, erheblich mehr Berliner ihren auch künftig Regierenden Bürgermeister erkennen werden, sofern er ihnen einmal auf der Straße begegnen sollten, bis sein Gesicht und sein Name Michael Müller (SPD) in spätestens zwei Wochen wieder versinken im Hinterkopf und dort nur als vage Erinnerung vegetieren. Gemeint ist auch nicht der Müller vom Wähler aufgezwungene Koalitionswechsel zu Grünen und Linken: Es wird weniger henkelsche Polizeistaatsrhetorik geben, dafür mehr Cannabis- und Sozialromantik - mehr ist nicht zu erwarten.

Als hätten sich alle Einwohner Salzgitters aufgemacht

Nein, bemerkenswert ist vor allem dieses: Seit 2001 sind in Berlin nicht mehr so viele Menschen zu einer Wahl des Abgeordnetenhauses gegangen wie diesmal. Etwa 100.000 Wahlberechtigte, die sich vor fünf Jahren nicht an der Abstimmung beteiligen wollten, haben diesmal ihren Stimmzettel abgegeben - das ist so, als hätten sich beispielsweise sämtliche Einwohner von Salzgitter aufgemacht, um die Politik der Hauptstadt mitzubestimmen.

Von der gestiegenen Wahlbeteiligung hat, wie auch schon in Mecklenburg-Vorpommern, vor allem die AfD profitiert. Aber anders als dort hat sie keinen triumphalen Sieg eingefahren, sondern liegt mit deutlichem Abstand auf Platz 5. Auch alle anderen Parteien haben Stimmen von bisherigen Nichtwählern bekommen.

Offensichtlich steht der Hauptstädter seiner Stadtpolitik eben doch nicht so grundwurstig gegenüber wie eingangs geschildert. Offenbar hat die aufgeheizte Stimmung angesichts der umstrittenen Flüchtlingspolitik viele Menschen dazu gebracht, sich wieder beteiligen zu wollen an dem, was in ihrer Stadt geschieht - auch solche, die sich längst aus dem politischen Betrieb verabschiedet hatten.

Ihr Wahlverhalten muss man nicht mögen, aber feststellen kann man doch: Das ist eine grundsätzlich frohe Botschaft für die Demokratie. Und sie macht Hoffnung auf einen schwungvollen Wahlkampf für die kommende Bundestagswahl.

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