
Reformvorschlag So will die SPD das Wahlrecht erneuern


Blick in den Plenarsaal des Deutschen Bundestags
Foto: Janine Schmitz/ photothek/ imago imagesMit 709 Mandaten ist der aktuelle Bundestag weit über seine eigentliche Soll-Größe von 598 Abgeordneten hinausgewachsen. Ursächlich dafür sind die Zersplitterung in der Parteienlandschaft und unser bisheriges Wahlsystem. Bei der kommenden Wahl können es über 800 werden. Die Arbeits- und Handlungsfähigkeit des Bundestags wäre beeinträchtigt und die Akzeptanz in der Bevölkerung könnte sinken. Deswegen müssen wir das Wahlrecht an diese Herausforderung anpassen und funktionstüchtig machen.
Grundsätzlich hat sich das personalisierte Verhältniswahlrecht bewährt. Mit der Erststimme wähle ich meinen Favoriten vor Ort. Mit der Zweitstimme wähle ich eine Partei und entscheide so über die politische Zusammensetzung des Bundestags. Das Modell ist in der Lage, den Willen des Wählers nahezu ideal abzubilden. Es hat aber einen Systemfehler, der ihm seit seiner Geburtsstunde immanent ist, allerdings erst jetzt offen zutage tritt: das Spannungsverhältnis zwischen Mehrheits- und Verhältniswahl.
Zu Zeiten von zwei starken Volksparteien entsprach das Verhältnis der Direktmandate von Union und SPD in etwa ihrem Zweitstimmenergebnis. Es kam nur bedingt und in geringer Anzahl zu sogenannten Überhangmandaten. Bei der letzten Bundestagswahl gewann jedoch die Union (wenn in vielen Fällen auch nur knapp) einen Großteil der 299 Wahlkreise - erzielte aber bundesweit nur rund 30 Prozent. Die Konsequenz: dutzendweise Überhangmandate. Dass damit das maßgebliche Zweitstimmenergebnis verfälscht wurde, hatte das Bundesverfassungsgericht bereits 2012 erkannt und uns vorgegeben, dies zu ändern. Mit dem heutigen Wahlrecht wird darum jedes Überhangmandat einer Partei mit Ausgleichsmandaten kompensiert, die den Zweitstimmenproporz wiederherstellen. Dies ist notwendig und gerecht. Es führt aber automatisch zu einer unkalkulierbaren Vergrößerung des Parlaments.
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Carsten Schneider, geboren 1976, ist Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion.
Deutlich weniger Wahlkreise und damit deutlich weniger direkt gewählte Abgeordnete könnten das Problem übergroßer Parlamente weitgehend lösen. Die Oppositionsparteien FDP, Linke und Grüne fordern deshalb eine Reduzierung auf 250 Wahlkreise. Allerdings: Trotz dieser deutlichen Verringerung könnte es nach derzeitigen Umfragewerten noch immer zu einer beträchtlichen Vergrößerung des Bundestags kommen. Wer rechnerisch gesichert auf die Regelgröße von 598 Mandaten kommen will, muss die Wahlkreise drastisch auf 200 reduzieren. Die Wahlkreise würden dabei aber so groß, dass es für Abgeordnete immer weniger möglich wäre, vor Ort präsent zu sein, sich zu kümmern und direkten Kontakt zu den Bürgerinnen und Bürgern zu halten. Angesichts des wachsenden Misstrauens gegen die behauptete Berliner Politikblase und der immer wieder beklagten Entfremdung zwischen Wählenden und Gewählten kann ich eine solche Reform nicht empfehlen.
Eine Reform in zwei Schritten
Jetzt überstürzt an den Wahlkreisen herumzuschneiden (wie die Opposition vorschlägt), vielleicht sogar unausgeglichene Überhangmandate in Kauf zu nehmen (wie von der Union aus nahe liegenden Gründen vorgeschlagen) und dann bei der nächsten Bundestagswahl doch wieder weit über Regelgröße zu landen, ist wirkungslos und unzuträglich. Was wir brauchen, ist eine nachhaltige Reform unseres Wahlrechts, die auch bei veränderten politischen Verhältnissen noch funktioniert. Dafür jedoch ist Zeit nötig. Da wir diese aber für die nächste Wahl nicht mehr haben, schlage ich meiner Fraktion ein Vorgehen in zwei Schritten vor.
Zunächst brauchen wir eine feste Obergrenze für die nächste Bundestagswahl, um zu starke Mandatsaufwüchse zu verhindern. Um dies zu erreichen, sollten wir die Anzahl der möglichen Bundestagsmandate deckeln. Ich schlage vor, die Maximalgröße zur nächsten Wahl – angelehnt an den heutigen Bundestag - bei 690 festzulegen, inklusive Überhang- und Ausgleichsmandaten. Darüber hinausgehende Überhangmandate werden nicht mehr zugeteilt. Das ist nicht schön, aber verfassungsrechtlich zulässig und notwendig, wenn wir einen funktionsfähigen Bundestag haben wollen, der in seiner Größe Akzeptanz und Zustimmung bei den Bürgern unseres Landes findet. Wer sich ehrlich macht, weiß, dass es ohne eine Begrenzung nicht geht. Sind Überhangmandate nämlich erst einmal entstanden, gibt es nur drei Möglichkeiten, mit ihnen umzugehen:
Man kann sie unausgeglichen stehenlassen. Dann aber wird das Zweitstimmenergebnis verzerrt und potenziell eine Mehrheit ermöglicht, die so von der Bevölkerung nicht gewählt wurde. Und man überschreitet schnell die Grenze der Verfassungsmäßigkeit.
Man kann Überhangmandate parteiintern mit den Listenplätzen anderer Bundesländer verrechnen. Dann hätte allerdings die CDU bei aktuellen Umfragen keinen einzigen Abgeordneten mehr in Bremen oder in Hamburg, obwohl sie dort (über die Landesliste) gewählt wurden. Außerdem hat die Union insgesamt gar nicht ausreichend Listenplätze, um all ihre Überhangmandate zu verrechnen. Zwangsläufig bleibt also nur
die Option, Überhangmandate nicht mehr zuzuteilen. Eine solche feste Obergrenze könnte für die kommende Wahlperiode als Brückenmodell dienen. Die Bundestagsgröße wäre auf ein funktionsfähiges Maß begrenzt und der notwendige Zweitstimmenproporz bliebe gewahrt. Im Gegensatz zu den bekannten Unionsmodellen wäre der faire politische Wettbewerb für die nächste Wahl gesichert. In einem zweiten Schritt sollten wir grundsätzlich über die derzeitige Ausgestaltung des personalisierten Verhältniswahlrechts diskutieren. Ist die von vielen Expertinnen und Experten empfohlene Reduzierung der Zahl der Wahlkreise tatsächlich dauerhaft der einzige Weg, unser bewährtes Wahlsystem zu retten? Wie begegnen wir dem Einwand, dass Wähler und Gewählte sich durch die Größe der Wahlkreise immer weiter voneinander entfernen könnten? Passt es noch zu einem 6-Parteien-System, wenn durch das Mehrheitswahlrecht Direktmandate mit einem Stimmenanteil von 20 bis 25 Prozent gewonnen werden können? Müssen wir vielleicht doch ganz andere, neue Wege gehen, in Richtung eines anderen Wahlsystems? Das sind gewichtige und berechtigte Fragen, die durchdachte und breit getragene Antworten erfordern.
Gerade deshalb sollten wir uns die Zeit nehmen, diese Fragen eingehend und in breiter Öffentlichkeit zu diskutieren. Es geht um die Grundprinzipien, nach denen parlamentarische Entscheidungsmacht in Deutschland verteilt wird. Und es geht um das wichtigste Recht des Einzelnen im demokratischen Gemeinwesen. Ich plädiere deshalb für die Einrichtung einer Reformkommission, an der Wissenschaftler, Politiker und Bürger beteiligt sind. Dabei sollte dringend auch beantwortet werden, wie ein von Frauen und Männern gleichermaßen besetzter Bundestag gewährleistet werden kann. Für die kommende Wahl schlage ich vor, auf jeden Fall schon einmal gesetzlich zu regeln, dass nur Parteien zugelassen werden, die ihre Landeslisten paritätisch besetzen.
Bei der Einrichtung einer Kommission geht es nicht um ein Verschieben einer Wahlrechtsreform auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Schon jetzt sind wir bereit, mit der Einführung einer festen Obergrenze für die nächste Bundestagswahl sofort und unmittelbar harte Einschnitte ins geltende Wahlrecht vorzunehmen. Wir wollen aber eine breit akzeptierte und nachhaltige Wahlrechtsreform schaffen, die die bewährten Prinzipien des personalisierten Verhältniswahlrechts erhält und zugleich die Zahl der Mitglieder des Bundestags wirksam begrenzt. Keiner der bislang von den anderen Bundestagsfraktionen vorgelegten Vorschläge kann dieses Ziel gewährleisten. Deswegen müssen wir uns die Zeit nehmen, weitere Reformoptionen in Betracht zu ziehen und bis dahin als tragfähige Brückenlösung die Bundestagsgröße deckeln.