Joachim Behnke

GroKo-Einigung zum Wahlrecht Weder fair noch effektiv

Joachim Behnke
Ein Gastbeitrag von Joachim Behnke
Der im Koalitionsausschuss beschlossene Entwurf zur Reform des Wahlrechts ist eine nur leicht abgemilderte Version des einseitigen Unionsvorschlags - mit besonderen Vorteilen für die bayerischen Christsozialen.
Sitzung im Deutschen Bundestag, Archivbild vom 13. März 2020

Sitzung im Deutschen Bundestag, Archivbild vom 13. März 2020

Foto: Achille Abboud / NurPhoto / picture alliance / dpa

Am Ende des Star-Trek-Films "Der Zorn des Khan" opfert sich Spock mit den Worten "Das Wohl der Vielen wiegt schwerer als das Wohl von Wenigen oder eines Einzelnen". Der bekennende Star-Trek-Fan Markus Söder muss diesen Film wohl verpasst haben. Vielleicht aber ist er auch einer der wenigen Fans, die sich eher mit den Klingonen identifizieren, die im "Unentdeckten Land" empfehlen, man solle Shakespeare im klingonischen Original lesen, was aus Söders Sicht dann wahrscheinlich das bayerische Original wäre.

Der Entwurf für eine Wahlrechtsreform, mit dem die Union am Dienstag in die Verhandlungen des Koalitionsausschusses ging, war jedenfalls sicherlich nicht zum Wohl der Vielen, sah aber sehr dezidiert Vorteile für die Union im Verhältnis zu den anderen Parteien und innerhalb der Union noch einmal einen besonderen Vorteil für die CSU vor. Während die CSU nach diesem Entwurf sämtliche Mandate ungeschmälert hätte behalten dürfen, also keinerlei Opfer hätte bringen müssen, würden Landeslistenmandate der CDU vor allem in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen geopfert, um Überhangmandate der CDU in Baden-Württemberg, Sachsen und anderen Ländern zu kompensieren. Um die Anzahl der Überhangmandate im Ansatz zu reduzieren, sodass weniger durch Listenmandate kompensiert oder ausgeglichen werden müsste, sah der Entwurf eine Reduktion der Anzahl der Wahlkreise von derzeit 299 auf 280 vor.

Sieben Überhangmandate sollten dabei allerdings unausgeglichen stehen bleiben, womit sich die Union im Gegensatz zu allen anderen Parteien durch das neue Wahlgesetz relativ deutlich verbessert hätte. Vor allem wäre damit das grundlegende Fairnessprinzip des Proporzes durchbrochen worden, nachdem alle Parteien so viele Mandate erhalten, wie ihnen insgesamt aufgrund ihrer Wählerzweitstimmen zustehen. Das größte demokratietheoretische Problem von unausgeglichenen Überhangmandaten wäre die Generierung einer falschen Regierungsmehrheit, die weniger Wähler hinter sich versammeln würde als die ihr gegenüberstehende Opposition.

CSU first, CDU second

Nach diesem Entwurf wäre unter anderem bei einem entsprechenden Wahlergebnis das folgende Szenario möglich, das im Bereich realistischer Ergebnisse liegt: Die CDU erhält insgesamt 20 Überhangmandate, die CSU sieben. Dann könnte es sein, dass für den Abbau der 20 Überhangmandate 12 Mandate der Landesliste der CDU in Nordrhein-Westfalen gestrichen würden, 6 der Landesliste in Niedersachsen, eines in Hamburg und eines in Berlin. Geschützt wären also sowohl die Direktmandate der CDU und der CSU gewesen, nur dass die CDU für alle ihre Überhangmandate Listenmandate verlieren würde, während die CSU ohne jeglichen Abstrich an Mandaten aus der Verteilung herausgegangen wäre und die sieben unausgeglichenen Überhangmandate allein für sich verbuchen könnte. Kurz: Dieses Modell war ein CSU-first-CDU-second-Vorschlag.

Die Behauptung Söders vor dem Zusammentreffen des Koalitionsausschusses, die SPD wolle eine Entscheidung verzögern, weil sie sich offensichtlich einen strategischen Vorteil für Rot-Rot-Grün verspreche, wenn der Bundestag besonders groß ist, stellt die Wahrheit daher in bemerkenswerterweise auf den Kopf und kann als gelungene Übung in Epistemologie à la Trump und Kellyanne Conway angesehen werden.

Als umso bedauerlicher muss es bewertet werden, dass diese durchsichtige Strategie dennoch halbwegs erfolgreich war. Denn der nun im Koalitionsausschuss beschlossene Entwurf ist offensichtlich letztlich nichts anderes als eine leicht abgemilderte Version des Unionsvorschlags. Allerdings sind nun "nur" noch drei unausgeglichene Überhangmandate vorhanden, und es kommt zu keiner Reduktion der Wahlkreise auf 280 schon bei der Wahl 2021, sondern diese soll auf die nächste Wahl vertagt werden. Die Reduktion der Wahlkreise aber wäre das wirkungsvollste Mittel gewesen, das Problem im Kern zu beseitigen, da so von Beginn an weniger Überhangmandate entstehen würden. Der Vorschlag der drei Oppositionsfraktionen FDP, Grüne und Linke sah daher eine Reduktion auf 250 Wahlkreise vor, was eine sehr effektive Verkleinerung zur Folge gehabt hätte.

Weiteres Wachstum nicht ausgeschlossen

Die Effekte des Vorschlags der Koalition lassen sich am besten anhand von zwei speziellen Konstellationen illustrieren, wobei diese zwar extrem, allerdings keineswegs unrealistisch sind. Reale Ergebnisse werden meistens eine Mischung der beiden Konstellationen sein und die entsprechenden Effekte zwischen den im Folgenden beschriebenen liegen.

  • Die erste Konstellation besteht in einem Wahlergebnis, bei der die Union bei einem Zweitstimmenergebnis zwischen 35 Prozent und 38 Prozent nahezu alle Direktmandate gewinnen würde. Dies wäre zum Beispiel nach den derzeitigen Umfrageergebnissen der Fall. Dann käme es zu keiner Verrechnung der Überhangmandate der CDU mit Listenmandaten, weil es gar keine Listenmandate dafür gäbe. Die Überhangmandate müssten also alle bis auf drei ausgeglichen werden. Das würde vermutlich zu einer Bundestagsgröße zwischen 740 und 780 Sitzen führen, also mit noch einmal deutlich mehr Sitzen als gegenwärtig. Der Einsparungseffekt für die drei unausgeglichenen Überhangmandate würde vermutlich bei vier bis sechs (!!!) Mandaten liegen. Dafür würde dann eine demokratietheoretische Legitimationskrise in Kauf genommen werden, falls es zu dem - zugegeben unwahrscheinlichen, aber keineswegs unmöglichen - Fall kommen sollte, dass diese drei Mandate über das Zustandekommen oder Nichtzustandekommen einer Regierungsmehrheit entscheiden würden. Da im Gegensatz zum SPD-Vorschlag, der eine Deckelung bei 690 Sitzen vorsah, keine Obergrenze garantiert ist, könnte der Bundestag durchaus auch noch deutlich größer werden und auf über 800 Sitze anwachsen.

  • Die zweite Extremkonstellation besteht darin, dass die CDU zwischen 20 und 40 Überhangmandate erhält, die aber weitgehend durch die Abgabe von Listenmandaten verrechnet werden könnten. Die Kosten dafür dürften wie erwähnt vor allem die großen Landesverbände der CDU in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen tragen. Es käme daher innerhalb der Unionsfraktion zu einer deutlichen Verschiebung der Gewichte mit einer Überrepräsentation der CSU und der Landesverbände der CDU in Baden-Württemberg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen und einer Unterrepräsentation von Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Hamburg und Berlin. Die Identität dieser Unionsfraktion wäre eine andere als eine bei korrekter Gewichtung der Landesanteile. Es könnte dann auch dazu kommen, dass wegen mehr als drei verbleibender Überhangmandate der CSU sich der Ausgleich an der CSU orientieren müsste, was wiederum bedeuten würde, dass die Anzahl der Sitze im Bundestag zum Ausgleich jedes Überhangmandats der CSU um jeweils 12 bis 18 erhöht werden müsste. Anders ausgedrückt: Der Ausgleich eines einzelnen CSU-Überhangmandats käme den Steuerzahler teuer zu stehen, nämlich auf ungefähr 30 Millionen Euro für eine Legislaturperiode. Die Kappung überschüssiger Direktmandate, wie sie die Vorschläge von SPD und AfD vorsahen, hätte diese Kosten zu vermeiden geholfen und hätte nicht die problematischen föderalen Verzerrungen zur Folge gehabt. Diesem Mechanismus aber haben sich die Union und insbesondere die CSU vehement widersetzt, wie man sieht: offensichtlich erfolgreich.

Von einem "Kompromiss" kann bei dem nun ausgehandelten Vorschlag also keine Rede sein, weil er die Vorteile und Nachteile sehr unausgewogen auf die Parteien verteilt. Während die Vorschläge von SPD, FDP, Grünen, Linke und AfD grundsätzlich alle Parteien gleich und fair behandelt hätten, war der Vorschlag der Union, der sich nun zumindest in abgeschwächter Form durchgesetzt hat, der einzige, der einen expliziten Vorteil für eine Partei, nämlich für die Union, vorsah.

Darüber hinaus aber ist das Ergebnis mehr als enttäuschend, da es mit großer Wahrscheinlichkeit das Problem der Vergrößerung des Bundestags nicht wirkungsvoll bekämpfen wird. Es ist nicht so, dass der Berg kreißte und eine Maus gebar, vielmehr handelt es sich bei der von der Koalition präsentierten Lösung um die Verkündung einer Scheinschwangerschaft, um über den tatsächlichen Mangel an echter Produktivität hinwegzutäuschen. In entsprechenden Filmkomödien geht das in der Regel allerdings nie gut.

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