Deutschland nach der Wahl Die Minderheitsregierung ist besser als ihr Ruf

Bundeskanzlerin Angela Merkel auf der Regierungsbank (Archivbild von Dez. 2013)
Foto: Michael Kappeler/ dpa
Thomas Gschwend, 49, ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Mannheim und Projektleiter am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung. Seine Forschungsschwerpunkte sind Parteien- und Wählerverhalten sowie empirische Rechtsforschung.

Roni Lehrer, 30, ist Politikwissenschaftler am Sonderforschungsbereich für die Politische Ökonomie von Reformen an der Universität Mannheim. Seine Forschungsschwerpunkte sind Parteipolitik in westlichen Demokratien sowie die Diffusion von Politikinhalten.
Die Jamaika-Sondierungen sind gescheitert, die SPD ziert sich, wieder in eine Große Koalition einzutreten - und alle reden von Neuwahlen. Das ist ein wenig vorschnell, wie ein Blick in das Grundgesetz zeigt.
In Artikel 63 steht, wie es jetzt weitergeht: Der Bundespräsident schlägt dem Parlament einen Kandidaten oder eine Kandidatin vor, sagen wir etwa die amtierende Bundeskanzlerin. Er oder sie ist dann ohne Aussprache zu wählen.
Falls sich die Mitglieder des Bundestages nicht auf einen mehrheitsfähigen Kandidaten einigen können, hat das Parlament noch 14 weitere Tage Zeit, einen Bundeskanzler zu wählen. Gibt es bis dahin immer noch keine Kanzlermehrheit, kommt es "unverzüglich" zu einem erneuten Wahlgang. Würde die amtierende Bundeskanzlerin in diesem Wahlgang zwar die meisten Stimmen, aber keine absolute Mehrheit erhalten, so könnte der Bundespräsident sie entweder erneut ernennen oder - aber auch erst dann - den Bundestag auflösen. Ersteres Szenario wäre dann die Situation, die viele als Minderheitsregierung beschreiben.
Bemerkenswert ist dabei zunächst, dass das Grundgesetz den Begriff der Minderheitsregierung gar nicht kennt. Trotzdem sind Regierungen, die sich nicht explizit auf eine Kanzlermehrheit verlassen können, in unserem Grundgesetz explizit als Möglichkeit vorgesehen.
Es ist im Übrigen gut, dass das Grundgesetz den Begriff Minderheitsregierung nicht explizit verwendet, denn dieser ist sehr unglücklich gewählt. Er beschreibt diese Regierungsform nur unzureichend. Vermutlich ist schon diese unglückliche Begriffsbildung verantwortlich dafür, dass diese im Grundgesetz vorgesehene Regierungsform in der öffentlichen Wahrnehmung vorschnell diskreditiert wird.
Schaut man einmal systematisch in andere Länder und vergleicht die Produktivität verschiedener Regierungsformen, kommt man zu einem völlig anderen Ergebnis. Wie so oft gilt auch hier: Begriffe sind nicht nur Schall und Rauch, sondern sie transportieren Inhalte, Argumente und liefern zudem den entsprechenden Deutungsrahmen. Aus den Sozialwissenschaften wissen wir, dass unterschiedliche Formulierungen einer Aussage - bei gleichem Inhalt - das Verhalten des Empfängers unterschiedlich beeinflussen.
Minderheitsregierung! Das klingt eben erst einmal nach Minderheit, minderwertig, undemokratisch und von daher sicher nicht erstrebenswert. Wer will schon von einer Minderheit regiert werden?
Tatsächlich ist aber eine sogenannte Minderheitsregierung keine Regierung einer Minderheit, wie der Begriff fälschlicherweise suggeriert. Als Minderheit bekommt man keine einzige Gesetzesvorlage durch das Parlament. Nein, eine solche Regierungsform muss sich immer Mehrheiten suchen, um Gesetze beschließen zu können. Es ist also keine Minderheit, die regiert, sondern eine Regierung, die mit wechselnden Mehrheiten arbeitet. Und gegen ein Regieren mit Mehrheiten, auch wenn sie von Fall zu Fall wechseln können, ist ja per se nichts einzuwenden. Vielleicht sollten wir uns das bewusst machen und vom "Regieren mit wechselnden Mehrheiten" sprechen statt von Minderheitsregierungen.
International nicht ungewöhnlich
In deutschen Bundesländern kamen Regierungen mit wechselnden Mehrheiten schon einige Male vor. Am längsten amtierend war und daher vermutlich am bekanntesten ist das sogenannte Magdeburger Modell. Namensgebend war der Sitz des Landtags von Sachsen-Anhalt, in dem eine SPD-geführte Regierung von 1994 bis 2002 von der damaligen PDS toleriert wurde.
International ist eine solche Regierungsform ebenfalls durchaus nicht ungewöhnlich. Allein auf Bundesebene ist sie hierzulande unbekannt - wenn wir drei kurze Episoden auslassen, zusammen gerade einmal 72 Tage, die in der Geschichte der Bundesrepublik keine allzu große Rolle spielen.
In den Medien werden Regierungen mit wechselnden Mehrheiten meist recht negativ beschrieben - ja oft sogar als instabil und ineffizient verteufelt. Ein Blick in die Statistik ergibt ein anderes Bild.
Regierungen, die sich von Fall zu Fall neue Mehrheiten erarbeiten müssen, sind insbesondere in skandinavischen Ländern gang und gäbe. Eine umfangreiche Studie des Politikwissenschaftlers José Antonio Cheibub über nationale Regierungen praktisch aller Demokratien weltweit zwischen 1946 und 1999 belegt, dass der Typ Minderheitsregierung im internationalen Vergleich keine wirkliche Minderheit als Regierungstyp darstellt.
Auch zeigt die Studie, dass Minderheitsregierungen, gemessen an der Anzahl von Gesetzesinitiativen der Regierung, die im Parlament verabschiedet werden, mindestens so erfolgreich und effizient arbeiten wie "normale" Koalitionsregierungen, die eine Mehrheit in Parlament besitzen.
Für Politikwissenschaftler ist auch die - aus deutscher Sicht - lange Dauer der Regierungsbildung nicht ungewöhnlich. Zwar stimmt es, dass es noch nie so lange gedauert haben wird, bis ein Bundeskanzler gewählt sein wird. (Für einige Tage hält noch Helmut Schmidts Regierung von 1976 den Rekord.) Doch in anderen Ländern sind mehrmonatige Koalitionsverhandlungen durchaus normal.
Wie das Schaubild zeigt, liegt die aktuelle Regierungsbildungsphase mit inzwischen gut 70 Tagen, die seit der Bundestagswahl verstrichen sind, zwar über dem Durchschnitt anderer Länder. Bedenkt man aber, dass die Jamaika-Verhandlungen wegen der Landtagswahl in Niedersachsen erst gut 30 Tage nach der Bundestagswahl begannen (und nicht wie üblicherweise noch in der Woche nach der Bundestagswahl), so rutscht die aktuelle deutsche Situation wieder näher an den internationalen Durchschnitt heran.
Auffällig ist, dass Länder, in denen die Regierungsbildung im Durchschnitt schneller abgeschlossen ist als in Deutschland, entweder Mehrheitswahlsysteme haben, sodass parlamentarische Mehrheiten oft einfach entstehen und nicht ausgehandelt werden müssen (zum Beispiel Griechenland und Großbritannien) oder häufig mit wechselnden Mehrheiten regiert werden (zum Beispiel Schweden, Dänemark, Norwegen).
Anders gesagt: Andere Länder, die ein ähnliches Wahlsystem haben und ähnlich viele Parteien im Parlament haben wie Deutschland, nutzen Regierungen mit wechselnden Mehrheiten regelmäßig. Und das wahrscheinlich auch nicht schlecht, denn laut dem World Happiness Report von 2017 sind Skandinavier zufriedener mit ihrem Leben als andere Europäer. Wir wissen nicht, inwiefern Regierungen mit wechselnden Mehrheiten daran einen Anteil haben. Sie scheinen aber nicht schlechter zu sein als Mehrheitsregierungen.
Die Bundestagswahl im September hat uns eine veränderte Parteienkonstellation beschert, aus der zudem eine höhere Anzahl von Fraktionen im Parlament folgt. Wir alle müssen dazulernen und sollten nicht Möglichkeiten, die das Grundgesetz aufzeigt, vorschnell und vor allem ohne Kenntnis der empirischen Wirklichkeit abtun und dadurch den Handlungsrahmen für eine Regierungsbildung einschränken.
Die empirische Wirklichkeit ist nämlich, dass in anderen Ländern Regieren mit wechselnden Mehrheiten üblich ist - und gute Ergebnisse vorweisen kann.