Programm zur Bundestagswahl Warum sich die Grünen bewusst dem politischen Gegner ausliefern

Annalena Baerbock und Robert Habeck (bei der Vorstellung des Entwurfs für ein Wahlprogramm)
Foto: Sean Gallup / Getty ImagesUm zur vielleicht bemerkenswertesten Passage des Grünen-Wahlprogramms vorzudringen, muss man sich durch 47 Seiten Textentwurf gearbeitet haben. Bis dahin erklären die Grünen die Relevanz des Klimawandels und die Notwendigkeit einer Veränderung, dann geht es um die Wirtschaft und schließlich: um die Schuldenbremse.
»Die Erde erhitzt sich, die Schulen verfallen und Deutschland gehört beim schnellen Internet zu den Schlusslichtern der EU. Wir investieren zu wenig in unser Land«, steht da. »Wir wollen die Schuldenbremse im Grundgesetz zeitgemäß gestalten – um die so dringenden Investitionen zu ermöglichen.«
Die Forderung ist nicht neu, aber nun wird klar, welche entscheidende Rolle sie spielt. Nur mit einer Aufweichung der Schuldenbremse kann das Programm funktionieren. Die Reform ist nicht einfach eine Forderung, sondern die Voraussetzung für große Teile des Rests. Dafür braucht es aber eine Grundgesetzänderung, also eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag. Die Stimmen einer Regierungskoalition werden dafür wohl nicht reichen, und ohne die Union wird es nicht gehen.
Jedes Wahlprogramm steht unter zwei großen Vorbehalten. Erstens: der Koalitionsbildung. Zweitens: der Regierungspraxis. Es führt auf, was getan werden soll, wenn der Koalitionspartner mitzieht und der Alltag nicht dazwischenfunkt. Die Grünen ergänzen nun einen dritten Vorbehalt: die Unterstützung des Gegners.
Nun fordern die Grünen nicht wörtlich, die Schuldenbremse abzuschaffen, Sozialleistungen sollen beispielsweise weiter nicht durch Schulden gedeckt werden. Aber darauf läuft es hinaus, wenn sie Schulden für Investitionen ermöglichen wollen.
Das Programm setzt voraus, was es selbst nicht schaffen kann
Die Partei verspricht 50 Milliarden Euro zusätzliche Investitionen pro Jahr, etwa eine Verdoppelung sei das, sagt Parteichef Robert Habeck. Sie will zwar auch mehr Steuereinnahmen generieren, durch eine Vermögensteuer etwa (ab zwei Millionen Euro und mit Ausnahmen für Betriebe) und eine Erhöhung des Grenzsteuersatzes ab 100.000 und dann ab 250.000 oder 500.000 Euro Jahreseinkommen (bei Erhöhung des Freibetrags). Doch das Investitionsprogramm soll maßgeblich durch Schulden finanziert werden.
Weil, gewitzte Formulierung, Deutschland schon jetzt Schulden mache, »die nicht in den Büchern stehen, aber unseren Wohlstand gefährden«. Die Grünen setzen Schulden im Buch gegen Schulden in der Wirklichkeit.
Das Programm lebt damit von Voraussetzungen, die es nicht selbst schaffen kann.
Das ist mutig, weil sich die Grünen damit dem politischen Gegner ausliefern. Weil es bedeutet, in den Wahlkampf zu gehen mit einem Programm, von dem man selbst nach erfolgreicher Koalitionsverhandlung für große Teile noch nicht versprechen kann, dass sie umsetzbar wären.
Darin kommt eine Grundidee dieses Programms zum Ausdruck: vom Notwendigen auszugehen. Auch wenn das Notwendige politisch unwahrscheinlich ist, wie etwa ein Bündnis mit der Union zur Schleifung der Schuldenbremse.
Die Union, die Kanzlerin, aber auch die SPD, hatten jahrelang genau das Gegenteil zum Leitprinzip erhoben. Angela Merkel hatte nach Verabschiedung des Klimapakets formuliert: »Politik ist das, was möglich ist.« Nötig durfte nur sein, was machbar schien. Machbar schien, was gemacht wurde. Der Merkelismus lebte von Voraussetzungen, die er vorzufinden glaubte.
Wenn die Grünen nun dagegensetzen wollen: »Politik ist, was nötig ist«, dann ist das mehr als nur die Fortführung der Praxis, dass Konservative Veränderungen verlangsamen und Linke Veränderung beschleunigen wollen. »Wir trauen den Menschen etwas zu«, sagte Annalena Baerbock. Sie muten auch mehr zu.
Die Parteispitze setzt darauf, dass die Schuldenbremse selbst unter Ökonominnen und Ökonomen keinen guten Ruf mehr hat, und darauf, dass die anderen Parteien sich schon darauf einlassen, wenn die Argumente nur gut genug sind und sie auch profitieren, etwa als Verantwortliche in den Kommunen, die investieren müssen.
Sie setzt auch darauf, dass man den Menschen ein anderes Staatsverständnis (aktiver, steuernder, selbstbewusster) und umfassende Veränderung zumuten, sogar schmackhaft machen kann. Das Programm ist kein Bauchladen mit viel Öko und ein paar Forderungen für Konservative, um bisherige Merkel-Wählerinnen und -Wähler anzuziehen. Sozialpolitisch (Bürgerversicherung, Ende von Hartz IV, höherer Mindestlohn) ist es links. Klima steht ganz vorn, das 1,5-Grad-Ziel wird zum Maßstab erklärt.
»Politische Führung, einen Anspruch mit seiner Person zu verkörpern und das Risiko des Scheiterns auf sich zu nehmen, das ist die Konsequenz, aus alldem, was wir beschreiben«, sagte Habeck bei der Vorstellung des Programmentwurfs.
Damit manövrieren sich die Grünen in eine Zwickmühle: Gehen sie auf Risiko, können sie scheitern. Wenn sie auf Sicherheit gehen, wenn sie nur das Machbare versuchen, sind sie aber erst recht gescheitert. Die Analyse lautet, dass es trotzdem nötig ist. Die Wette, dass es sich lohnt.
Kokolores in der Einleitung
Man muss den Grünen das alles nicht glauben, siehe Standardvorbehalt eins (ob sie das in Koalitionsverhandlungen durchkriegen?) und Standardvorbehalt zwei (ob sie es wirklich umsetzen?). In Baden-Württemberg, wo Winfried Kretschmann in seine dritte Amtszeit startet, ist vieles geblieben, wie es war.
Wenn die Grünen in der Einleitung schreiben »Wir wissen, wie man eine Industriegesellschaft sicher ins Zeitalter der Klimaneutralität führt«, dann darf man das getrost als Kokolores bezeichnen.
Erstens, weil das Programm selbst an entscheidenden Stellen nicht sehr konkret wird. Beispiel: »Es gilt daher, Wasserstoff und synthetische Kraftstoffe dort zum Einsatz zu bringen, wo sie wirklich gebraucht werden: etwa in der Industrie oder beim Flugverkehr.« Das ist eine Beschreibung, aber kein Plan. Zweitens, weil niemand das wissen kann, es ist schließlich noch nie versucht worden.
Vielleicht sind die Grünen nur viel besser als andere Parteien darin, eine Geschichte zu erzählen, von sich als Gestalterinnen einer neuen Epoche. Dadurch, dass sie mit einer Reform der Schuldenbremse kalkulieren, hinterlegen sie aber ein ordentliches Pfand. Sie gehen in Risikovorleistung. Genug, um vorläufig davon auszugehen, dass das Versprechen mehr sein könnte als nur Polit-PR.