Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten "Sprechen Sie mit Menschen, die nicht Ihrer Meinung sind!"

Frank-Walter Steinmeier
Foto: Annegret Hilse/ APDie Deutschen sprächen immer seltener miteinander und hörten noch seltener einander zu. Davon ist Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier überzeugt. "Wo immer man hinschaut, erst recht in den sozialen Medien: Da wird gegiftet, da ist Lärm und tägliche Empörung", sagte er in seiner Weihnachtsansprache laut einer vorab veröffentlichten Version. "Mehr noch als der Lärm von manchen besorgt mich das Schweigen von vielen anderen", sagte er.
Demokratie brauche politischen Streit und Kompromisse. "Unsere Demokratie ist immer so stark, wie wir sie machen. Sie baut darauf, dass wir unsere Meinung sagen, für unsere Interessen streiten. Und sie setzt uns der ständigen Gefahr aus, dass auch der andere mal Recht haben könnte", sagte das Staatsoberhaupt. "Die Fähigkeit zum Kompromiss ist die Stärke der Demokratie."
Immer mehr Menschen zögen sich jedoch zurück unter ihresgleichen, in die eigene Wahrnehmungsblase, in der alle einer Meinung seien - auch darüber, wer dazugehöre. "Nur, so sehr wir uns über andere ärgern oder sie uns gleich ganz wegwünschen, eines gilt auch morgen noch: Wir alle gehören zu diesem Land - unabhängig von Herkunft oder Hautfarbe, von Lebensanschauung oder Lieblingsmannschaft", mahnte der Bundespräsident.
"Wir müssen wieder lernen, zu streiten, ohne Schaum vorm Mund, und lernen, unsere Unterschiede auszuhalten." Wer Streit habe, könne sich auch wieder zusammenraufen, sagte Steinmeier. "Aber wer gar nicht spricht und erst recht nicht zuhört, kommt Lösungen kein Stück näher. Sprachlosigkeit heißt Stillstand."
Steinmeier forderte die Menschen auf, Auseinandersetzungen bewusst zu suchen: "Sprechen Sie mit Menschen, die nicht Ihrer Meinung sind!" Das sei auch sein Vorsatz für das kommende Jahr. Die Gesellschaft solle mit sich im Gespräch bleiben.
Was passiere, wenn Gesellschaften auseinanderdriften, sei "in der Welt um uns herum" gut zu beobachten, mahnte Steinmeier. "Wir haben brennende Barrikaden in Paris erlebt, tiefe politische Gräben in den USA, Sorgen in Großbritannien vor dem Brexit, Zerreißproben für Europa in Ungarn, Italien und anderswo." Auch Deutschland sei "natürlich nicht geschützt gegen solche Entwicklungen", warnte der Bundespräsident. "Auch bei uns im Land gibt es Ungewissheit, gibt es Ängste, gibt es Wut."
Steinmeier dankte allen, die an Heiligabend Dienst tun - "in Krankenhäusern oder Polizeiwachen, bei der Feuerwehr oder im Altenheim, im In- und im Ausland" - und resümierte: "Ich bin zuversichtlich für das, was kommt im nächsten Jahr. Und Zuversicht wünsche ich auch Ihnen ganz persönlich."